Eine wechselvolle Geschichte: Vier Jahrzehnte Strukturvertrieb

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Die Geschichte des deutschen Strukturvertriebs ist eng mit Namen wie Professor Dr. Reinfried Pohl verbunden, der kürzlich im Alter von 86 Jahren verstarb. Er gehört zu einer Gründergeneration, die den Strukturvertrieb in Deutschland salonfähig machten.

Die Geschichte des Strukturvertriebs in Deutschland beginnt mit einem Skandal. Auslöser war die IOS – International Overseas Services. Das in den 1950er Jahren unter anderem von Bernard Cornfeld gegründete Unternehmen passte in seine Zeit. Im Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg brauchten die Unternehmen Kapital, scheiterten aber mit der Kapitalbeschaffung an der Scheu der Privatanleger, Aktien zu erwerben.

Wie die Idee des Tür-zu-Tür-Verkaufs entstand
Einen Ausweg boten die neu geschaffenen Investmentfonds. Doch auch diese Idee musste an die Kleinanleger erst einmal herangetragen werden. So entstand die Idee des Tür-zu-Tür-Verkaufs, bei dem es keineswegs nur um den Absatz der Fondsanteile ging. Vielmehr sollten auch ständig neue Multiplikatoren gewonnen werden, die ihrerseits wieder neue Kunden aufsuchen.
Viele bis heute tragende Ideen stammen aus dieser Frühzeit des Strukturvertriebs. So beispielsweise die Verpflichtung bekannter Politikerpersönlichkeiten, um öffentlichen Einfluss zu gewinnen und gleichzeitig Kunden Vertrauenswürdigkeit zu signalisieren.

Ehemalige IOS-Manager als Neugründer
Die heute noch existierenden, großen deutschen Strukturvertriebe gehen in der Regel auf Gründungen ehemaliger IOS-Mitarbeiter zurück. Bonnfinanz und später Kompass (heute: DVAG) wurden beide vom ehemaligen IOS-Manager Pohl gegründet, aber auch HMI (heute: Ergo Pro), OVB und Tecis gehen auf frühere IOS-Verantwortliche zurück. Bei OVB lernte Carsten Maschmeyer, der später den AWD (heute: Swiss Life Select) mit gründete.
Strukturvertriebe genossen lange einen sehr zweifelhaften Ruf, waren aber dennoch sehr erfolgreich. In dem 2005 erschienenen autobiografischen Buch „Ich habe Finanzgeschichte geschrieben“ nennt Pohl vor allem die Vermögensbildungsgesetze als Katalysator. Auch hier wieder musste eine neuartige Idee, die dem Willen zur stärkeren Demokratisierung der Wirtschaft durch Kapitalbildung in Arbeitnehmerhand entsprach, an die Kleinanleger herangetragen werden. Ein Geschäft, um das die „Großen“ der Branche wie Banken und Versicherer mit ihren traditionellen Vertriebsorganisationen oder auch die damals noch recht wenigen Makler einen Bogen machten.

Ein (fragwürdiger) Weg: Strukturvertrieb und Stammvertrieb als getrennte Organisationen

Die großen Strukturvertriebe wandelten sich unter dem Druck zunehmender Öffentlichkeit und der Erwartungen ihrer Vertragspartner. So wurden beispielsweise in den 1990er Jahren in vielen Vertrieben Ausbildungsprogramme mit anfänglich eigenständig konzipierten IHK-Prüfungen eingeführt, um dem Vorwurf zu begegnen, nur mit unqualifizierten Verkäufern zusammenzuarbeiten. Neben dem Neuabsatz von Versicherungen und Finanzprodukten spielte zunehmend die Betreuung von Bestandskunden eine Rolle, die auf unterschiedliche Weisen gelöst wurde.

Ein besonders radikales Modell zum Beispiel war das der HMI, Strukturvertrieb und Stammvertrieb als getrennte Organisationen für die Neuakquise und für die Bestandsbetreuung aufzubauen, um damit auch unterschiedliche Verkäufertypen optimal einzubinden. Dass der Freiluftbordell-Skandal aber ausgerechnet den auf raschen Neuabsatz ausgerichteten Strukturvertrieb betraf, lässt zweifeln, ob dieses Modell noch zeitgerecht ist. Einen anderen Weg ging Formaxx, eine Neugründung durch ehemalige Manager großer Struktur- und Finanzvertriebe, indem die Vergütung direkt von einer nachweislichen regelmäßigen Betreuung mit abhängig gemacht wurde.

Wachstumsprobleme für die Großvertriebe
Heute kämpfen die großen Vertriebe erkennbar alle mit Wachstumsschwächen. Die Neugewinnung von Vermittlern stockt, der Beruf ist zu unbeliebt und die Arbeitsmarktlage zu günstig. Teilweise wird schon mit eigentlich systemwidrigen Angeboten auf einen sanften Einstieg über Angestelltenverträge geworben, um noch qualifizierte Neuvermittler zu gewinnen. Ein zwischenzeitlicher Schub durch Banker, die ihren Arbeitsplatz im Zuge der Finanzkrise verloren hatten, dürfte abgeebbt sein.

Auch sind die Rahmenbedingungen denkbar schlecht. Angefangen mit der Provisionsdeckelung in Kranken wird es nun bald auch in der Lebensversicherung eng werden, insbesondere, falls das Lebensversicherungsreformgesetz in der vorgeschlagenen Form in Kürze verabschiedet wird. Dann kommt doppelter Druck auf: Durch die Versicherer, die die bisherigen Vergütungen nicht mehr finanzieren können, und die Kunden, denen die Provisionen offenzulegen sind. Es braucht keine prophetischen Fähigkeiten vorauszusagen, dass eine Konsolidierungswelle bevorsteht, in der nicht jeder Vertrieb eigenständig und in heutiger Größe überleben wird.

Öffentliche Anerkennung fehlte bislang
Andererseits kann die Situation auch einen weiteren Entwicklungsschritt bei den Vertrieben fördern. Eine große Stärke war bisher schon der Systemvertrieb, bei dem bewährte, antrainierte Konzepte zu einer hohen Effizienz der Verkäufer führten. Allerdings fehlte es bisher an der öffentlichen Anerkennung.
Hier könnten Bemühungen um eine Standardisierung weiterhelfen. Solche Ideen gibt es, wie die Deutsche Finanznorm (Defino) zeigt, aus der bereits eine Vorstufe einer DIN-Norm geworden ist. Mit einem deutlich breiteren Konsens maßgeblicher Akteure sowohl des Vertriebs als auch des Verbraucherschutzes unterlegt, könnte eine Beratungsnorm die Akzeptanz des Systemvertriebs deutlich steigern.

Unabhängig von der Vergütungsform muss jeder Vertrieb in Zukunft deutlicher rechtfertigen, wofür er durchaus hohe Kosten verursacht. Hier sind die Strukturvertriebe im Grunde besser vorbereitet als die Mehrheit der eher schwach standardisiert arbeitenden Ausschließlichkeits-, Mehrfachvertreter- und Maklerunternehmen.

Autor(en): Matthias Beenken

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