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Schadenreservierung

1. Einführung: Zur Bedeutung der Schadenreservierung

Am Ende eines Geschäftsjahres sind i.Allg. nicht alle Schäden, die in diesem Geschäftsjahr eingetreten sind, abschließend reguliert. Nicht abschließend regulierte Schäden werden als Spätschäden bezeichnet. Spätschäden entstehen aus zwei Gründen:

  • Ein Schaden ist entstanden, aber noch nicht gemeldet (IBNR = incurred but not reported).
  • Ein Schaden ist gemeldet, aber die Höhe des Schadens lässt sich noch nicht bestimmen; daher ist die für die Regulierung dieses Schadens gebildete Einzelschadenreserve unter Umständen zu gering (IBNER = incurred but not enough reserved).

Das Problem der Spätschäden stellt sich grundsätzlich in allen Versicherungszweigen, insbesondere aber in der Haftpflichtversicherung. Beispiele sind Konstruktionsfehler bei Bauwerken, die erst nach vielen Jahren einen Schaden auslösen, oder Personenschäden mit einem ungewissen Verlauf der Heilung. In verschärfter Form stellt sich das Problem der Spätschäden für den Rückversicherer bei einer Schadenexzedenten-Rückversicherung, weil ein Schaden dem Rückversicherer erst dann gemeldet wird, wenn zu erwarten ist, dass die Schadenhöhe die Priorität überschreitet. Für die Schäden eines Geschäftsjahres, die noch nicht vollständig reguliert sind, ist eine Schadenreserve zu bilden. Dabei kann die Summe der Schadenreserven für alle Geschäftsjahre je nach Versicherungszweig das Prämienvolumen eines Geschäftsjahres erreichen oder sogar deutlich übersteigen.

2. Dokumentation der Schadenabwicklung

Die Abwicklung der Schäden eines Geschäftsjahres kann durch unterschiedliche Abwicklungsdaten dokumentiert werden:

  • Zahl der gemeldeten Schäden,
  • Schadenzahlung für die bekannten Schäden,
  • Schadenaufwand für die bekannten Schäden; dabei ist der Schadenaufwand die Summe der Schadenzahlungen und der Einzelschadenreserven.

Im Hinblick auf die Verfahren der Schadenreservierung erfolgt die Darstellung der Abwicklungsdaten zweckmäßigerweise in Form einer Matrix, in der die Abwicklungsdaten als Zuwächse von Schäden oder Schadenstände in Abhängigkeit vom Anfalljahr und vom Abwicklungsjahr angegeben werden. Beispielsweise ergibt sich ein Abwicklungsdreieck für Zuwächse (siehe die folgende Abbildung),

Anfall-

Abwicklungsjahr

jahr

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2010

1001

854

568

565

347

148

2011

 

1113

990

671

648

422

2012

 

 

1265

1168

800

744

2013

 

 

 

1490

1383

1007

2014

 

 

 

 

1725

1536

2015

 

 

 

 

 

1889

das im Hinblick auf die mathematische Behandlung der Abwicklungsdaten durch den Übergang zu relativen Anfalljahren und relativen Abwicklungsjahren üblicherweise wie folgt transformiert wird:

Anfall-

Abwicklungsjahr

jahr

0

1

2

3

4

5

0

1001

854

568

565

347

148

1

1113

990

671

648

422

 

2

1265

1168

800

744

 

 

3

1490

1383

1007

 

 

 

4

1725

1536

 

 

 

 

5

1889

 

 

 

 

 

Allgemein wird eine Familie von zufälligen Zuwächsen {Zi,k}i,k ∈ {0,1,…,n} betrachtet, die für i + k ≤ n beobachtbar und für i + k ≥ n + 1  nicht beobachtbar sind:

47143.jpeg

Durch Summation ergeben sich die zufälligen Schadenstände

formula_68593_1.png

Dabei werden die Schadenstände Si, n-1 als aktuelle Schadenstände und die Schadenstände Si, n als Endschadenstände bezeichnet. Der Parameter n wird als Abwicklungsdauer bezeichnet.

3. Abwicklungsmuster

Den meisten Verfahren der Schadenreservierung liegt die Annahme zugrunde, dass unter Vernachlässigung zufälliger Effekte

  • alle Zeilen des Abwicklungsquadrats zueinander proportional sind und
  • alle Spalten des Abwicklungsquadrats zueinander proportional sind.

Diese Annahme lässt sich in Form eines multiplikativen Modells für die erwarteten Zuwächse präzisieren: Es gibt Parameter  formula_68593_2.png

derart, dass für alle formula_68593_3.png gilt. In diesem Fall wird die Gesamtheit der Parameter formula_68593_4.png als Abwicklungsmuster für Anteile bezeichnet, denn aus der letzten Gleichung ergibt sich durch Summation

formula_68593_5.png

Die Existenz eines Abwicklungsmusters für Anteile ist äquivalent mit der Existenz eines Abwicklungsmusters für Quoten formula_68593_6.png

für alle formula_68593_7.png, und sie ist auch äquivalent mit der Existenz eines Abwicklungsmusters für Faktoren

formula_68593_8.png

Einfache Umformungen zeigen, dass sich jedes dieser drei Abwicklungsmuster in jedes der beiden anderen Abwicklungsmuster konvertieren lässt.

4. Reservierungsverfahren

Die Verfahren der Schadenreservierung sind vielfältig. Sie unterscheiden sich in der Art der Prognose der zukünftigen Schadenstände Si, k mit i + k ≥ n + 1  durch Prädiktoren formula_68593_9.png. Auf der Grundlage dieser Prädiktoren ergeben sich bspw. mit formula_68593_10.png die Anfalljahrreserven und mit formula_68593_11.png die Gesamtreserve, und in ähnlicher Weise lassen sich andere Reserven wie die Kalenderjahrreserven bestimmen. Die folgenden vier Verfahren werden als Basisverfahren bezeichnet:

  • Chain-Ladder-Verfahren:formula_68593_12.pngmit den Chain-Ladder-Faktorenformula_68593_13.png als Schätzer für das Abwicklungsmuster für Faktoren.
  • Loss-Development-Verfahren:formula_68593_14.png wobei formula_68593_15.png Schätzer für das Abwicklungsmuster für Quoten sind. Mit formula_68593_16.png ergibt sich als Spezialfall das Chain-Ladder-Verfahren.
  • Cape-Cod-Verfahren:formula_68593_17.pngSchätzer für das Abwicklungsmuster für Quoten sind, formula_68593_18.png ein Volumenmaß für das Anfalljahr i ist undformula_68593_19.png als Cape-Cod-Schadenquote bezeichnet wird.
  • Additives Verfahren (Verfahren der anfalljahrunabhängigen Schadenquotenzuwächse):formula_68593_20.png wobei formula_68593_21.png ein Volumenmaß für das Anfalljahr i ist. Das additive Verfahren lässt sich, unter Verwendung von speziellen und von den Volumenmaßen abhängigen Schätzern  formula_68593_22.png für das Abwicklungsmuster für Quoten, als Spezialfall des Cape-Cod-Verfahrens darstellen.

Diese vier Verfahren, und viele weitere, lassen sich einheitlich in der Form des Bornhuetter-Ferguson-Prinzips

formula_68593_23.png

darstellen, wobei formula_68593_24.png Schätzer für das Abwicklungsmuster für Quoten und formula_68593_25.png (a-priori) Schätzer für die erwarteten Endschadenstände E[Si,n] sind. Diese Schätzer können

  • unter ausschließlicher Verwendung der Abwicklungsdaten oder
  • unter Einbeziehung von Volumenmaßen oder
  • aus ähnlichen Beständen (mit stabileren Abwicklungsdaten) oder Marktstatistiken

gewonnen werden und liefern je nach Art der verwendeten Information unterschiedliche Prädiktoren für die zukünftigen Schadenstände und damit auch unterschiedliche Reserven.

5. Heuristische und stochastische Modelle

Die üblichen Verfahren der Schadenreservierung sind in erster Linie heuristischer Natur. Stochastische Modelle können jedoch zu einem tieferen Verständnis der Verfahren beitragen und sie unter bestimmten Verteilungsannahmen und statistischen Optimalitätskriterien begründen. Darüber hinaus bilden stochastische Modelle eine unverzichtbare Grundlage für die Schätzung des Prognosefehlers. Stochastische Modelle wurden bisher v.a. für das Chain-Ladder-Verfahren und das additive Verfahren untersucht.

6. Einflussgrößen und Merkmale

(1) Ausreißer

Ungewöhnlich hohe Schäden verursachen ungewöhnlich hohe aktuelle Schadenstände Si,n-i , die beim Loss-Development-Verfahren und insbesondere beim Chain-Ladder-Verfahren zu ungewöhnlich hohen Prognosen für die zukünftigen Schadenstände führen. Derartige Ausreißereffekte können durch Anwendung des Cape-Cod-Verfahrens und insbesondere des additiven Verfahrens gedämpft werden. Eine andere Möglichkeit besteht darin, Ausreißer aus dem Abwicklungsdreieck zu entfernen und separat zu behandeln.

(2) Nachlauf

Die in den Abwicklungsdreiecken verwendete Abwicklungsdauer n ist eine abstrakte Größe, die sich aus der Verfügbarkeit und Qualität der Abwicklungsdaten ergibt. In der aktuariellen Praxis ist davon auszugehen, dass es Schäden gibt, die nach Ablauf des Abwicklungsjahres n noch nichtvollständig reguliert sind. Die Abwicklung über das Abwicklungsjahr n hinaus wird als Nachlauf bezeichnet. Obwohl der Nachlauf für ein hinreichend großes n nur wenige Prozent des Gesamtschadens ausmacht, darf er aufgrund der Größenordnung des Gesamtschadens nicht vernachlässigt werden. Zur Modellierung des Nachlaufs bietet sich eine Extrapolation des geschätzten Abwicklungsmusters für Anteile an.

(3) Inflation

In der Schadenreservierung wird zwischen monetärer und nicht-monetärer Inflation unterschieden. Dabei stellt die monetäre Inflation das kleinere Problem dar, da sie i.Allg. bekannt ist und die Abwicklungsdaten vor der Anwendung eines Prognoseverfahrens deflationiert werden können. Das größere Problem stellt die nicht-monetäre Inflation dar, die durch gewollte oder aufgrund einer veränderten Rechtslage erforderliche Änderungen in der Abwicklungspraxis entsteht und nur schwer zu messen ist. Eine Bereinigung der Abwicklungsdaten um die nicht monetäre Inflation erfordert eine sorgfältige Analyse der Abwicklungsdaten und kann zu einem gewissen Grad durch aktuarielle Verfahren wie das Separationverfahren erreicht werden. Eine Inflationsbereinigung muss in jedem Fall auf der Grundlage des Abwicklungsdreiecks für Zuwächse erfolgen.

(4) Segmentierung

In der Schadenreservierung besteht das grundsätzliche Problem der Abgrenzung der Teilbestände, für die Schadenreserven bestimmt werden sollen. Das Problem der Segmentierung unterliegt einem Zielkonflikt, da die Teilbestände einerseits möglichst homogen und andererseits im Hinblick auf statistische Stabilität möglichst groß sein sollten.

(5) Korrelation

Für einen Bestand, der aus mehreren Teilbeständen besteht, können Reserven entweder auf der Grundlage der Abwicklungsdaten des gesamten Bestands oder als Summe der entsprechenden Reserven der Teilbestände bestimmt werden. Die Bestimmung von Reserven auf der Grundlage der aggregierten Abwicklungsdaten der Teilbestände hat den Nachteil, dass unterschiedliche Abwicklungsmuster der Teilbestände verwischt und Korrelationen zwischen den Teilbeständen vernachlässigt werden. Zur Berücksichtigung der Korrelation zwischen den Teilbeständen wurden multivariate Erweiterungen des Chain-Ladder-Verfahrens und des additiven Verfahrens entwickelt. Unter einem natürlichen statistischen Optimalitätskriterium führen diese Verfahren auf optimale Prädiktoren für die Teilbestände und für den gesamten Bestand, die in dem Sinne konsistent sind, dass die Prädiktoren für den gesamten Bestand mit der Summe der entsprechenden Prädiktoren für die Teilbestände übereinstimmen. Die Implementierung dieser multivariaten Verfahren ist mit Schwierigkeiten verbunden. Erste empirische Untersuchungen deuten jedoch daraufhin, dass sich ähnliche Ergebnisse einstellen, wenn jeder Teilbestand auf der Grundlage seiner eigenen Abwicklungsdaten bearbeitet wird und Reserven für den gesamten Bestand durch Summation über die entsprechenden Reserven für die Teilbestände bestimmt werden.

Autor(en): Prof. Dr. Klaus D. Schmidt

 

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