"Der aktuelle Rechnungszins ist nicht mehr zeitgemäß"

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Im Zuge der wirtschaftlichen Instabilität durch die Covid-19-Krise stellt sich die Frage, wie die Wertstabilität der Lebensversicherer aufrechterhalten werden kann. Dabei geht es maßgeblich um den Höchstbetrag für den Rechnungszins (Garantiezins) sowie um die Ausschüttung von Bewertungsreserven.

Über den Höchstrechnungszins wird der Verpflichtung des Versicherers Rechnung getragen, Deckungsrückstellungen in der Bilanz abzubilden. Hintergrund ist, dass im Rahmen der Solvabilitätsvorschriften II (Solvency II) das Versicherungsunternehmen bei niedrigeren Zinsen nicht sofort überschuldet wird und ausreichende finanzielle Deckung aufweisen kann. Grund für diese Neuregelung war, dass nach Auffassung des Gesetzgebers ein lang anhaltendes Niedrigzinsumfeld mittel- bis langfristig die Fähigkeit der privaten Lebensversicherer bedrohen würde, die den Versicherten zugesagten Zinsgarantien zu erbringen (BT-Drucks. 18/1772 S. 1 – Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 27. Juni 2017 - IV ZR 201/17).

Stabilität der Versicherer hat Vorrang

Grundsätzlich muss ein Versicherungsunternehmen dafür Sorge tragen, dass Tarife so kalkuliert werden, dass entsprechend hohe Rückstellungen für den Fall der Auszahlungen an Versicherungsnehmer gebildet werden können. Um dem Rechnung zu tragen, wurde der Zins zum 1. Januar 2017 auf 0,9 Prozent gesenkt (vgl. § 2 Absatz 1 Satz 1 DeckRV - "Bei Versicherungsverträgen mit Zinsgarantie, die auf Euro oder die nationale Währungseinheit eines an der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion teilnehmenden Mitgliedstaates lauten, wird der Höchstzinssatz für die Berechnung der Deckungsrückstellungen auf 0,9 Prozent festgesetzt.").

Im Umfeld niedriger Zinsen wurde es notwendig, der Stabilität der Versicherungsunternehmen Vorrang zu gewähren. Dazu gehörte auch, die Bewertungsreserven der Unternehmer in der Ausschüttung an die Kunden zu berücksichtigen. Um eine Ausschüttung an alle Kunden sicherstellen zu können, wurde 2014 beschlossen, dass Versicherer Reserven nur in dem Umfang ausschütten dürfen, in dem in der Folge sichergestellt würde, dass die Auszahlungen für alle anderen Kunden garantiert werden können (vgl. BGH s.o.: "Es bestehe ansonsten die Gefahr, dass Vermögen, welches mittel- und langfristig für die Erfüllung der Garantien der Versicherten benötigt werde, kurzfristig abfließe.").

Dies führte zu massiven Kürzungen der Ausschüttungen. Der Bundesgerichtshof musste mit Urteil vom 27 Juni 2018 - IV ZR 201/17- daher darüber entscheiden, ob eine geringere Ausschüttung als ursprünglich in Aussicht gestellt rechtmäßig ist und ob die Versicherer ihre Berechnungswege transparenter machen müssten. Beide Fragen wurden vom BGH bejaht. Grundsätzlich geht es um einen Interessenausgleich zwischen Versicherer und Kunden.

 

Interessen der ausscheidenden Kunden sind nachrangig

Im Prinzip wurde die geltende Regelung vom Gericht bestätigt. Betroffen sei die unternehmerische Entscheidung eines Unternehmens. Im Übrigen sei dies auch Ausdruck der Niedrigzinsphase, die Versicherer mittelfristig und langfristig zwingen könnte, zugesagte Zinsgarantien nicht mehr erbringen zu können. Die Interessen der ausscheidenden Sicherungsnehmer sind daher als nachrangig über den Interessen der verbleibenden Versicherungsnehmer zu betrachten.

In der gegenwärtigen Wirtschaftskrise, die in eine Depression abzugleiten droht, stellt sich die Frage, ob eine Verringerung der Ausschüttungen zulässig sein soll. Für die Versicherer wäre dies zu befürworten. Im Rahmen des Garantiezinses und im Rahmen der derzeitigen wirtschaftlichen Entwicklungen durch Covid-19 ist eine höhere Ausschüttung technisch nicht denkbar, ohne in den Bereich einer möglichen Überschuldung/Insolvenz eines Versicherungsunternehmens zu gelangen. Dies muss zu Gunsten der Allgemeinheit – etwa durch eine staatliche Bürgschaft – und zu Gunsten der verbleibenden Versicherungsnehmer ausgeschlossen werden (siehe auch BMF, Bericht an den Finanzausschuss des Deutschen Bundestages Evaluierung des Lebensversicherungsreformgesetzes, Juni 2018 - "Mit der Neuregelung des LVRG wird die Ausschüttung von Bewertungsreserven begrenzt, soweit dies zur Sicherung der den Bestandskunden zugesagten Garantien erforderlich ist. Damit wird der Abfluss von Mitteln, die zur Finanzierung der Garantien der Bestandskunden benötigt werden, unterbunden und entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ein Ausgleich zwischen den Interessen der in einer Risikogemeinschaft verbundenen Versicherten hergestellt").

Zinssatz muss fallen

Daher kann der derzeitige Zinssatz von 0,9 Prozent als nicht mehr zeitgemäß betrachtet werden. Auslöser jedoch nicht Ursprung ist dabei die derzeitige Wirtschaftskrise, die dafür sorgen dürfte, dass der Zins mittelfristig auf 0,5 Prozent oder geringer gesenkt wird. Tatsache ist, dass Unternehmen mit vielen Arbeitsplätzen abgesichert werden müssen, um auch von der Allgemeinheit weiteren Schaden fernzuhalten. Dazu gehört auch, dass es rechtlich und ethisch unbegründet wäre, an eine Überschussbeteiligung zu denken. Vielmehr sollten in einer solidarischen Gemeinschaft die Überschüsse und deren Auszahlung gesenkt werden. Dabei darf natürlich nicht übersehen werden, dass ausscheidende Versicherungsnehmer benachteiligt werden. Allerdings kann es in der derzeitigen Situation keine andere Entscheidung geben. Möglich wäre zwar der Aufschub einer Zahlung der freiwilligen Beteiligung auf einen späteren Zeitpunkt, was rechtlich betrachtet jedoch nicht im Einklang mit den Solvency II-Vorschriften stehen dürfte.

Daher scheint sich die Reduzierung der Auszahlung von Überschüssen in einer Phase zu befinden, die sich dem Ende zuneigt. Dies dürfte sich aus Sicht des BMF ebenfalls entsprechend darstellen, welches auf die Risikotragfähigkeit der Unternehmen besonderes Augenmerk richtet. So wäre es auch denkbar, von gesetzlicher Seite Entnahmen oder Ausschüttungen zu verbieten, was sich in der derzeitigen Situation aufdrängt. Denkbar wären auch Eingriffe in die Bilanzen, so dass eine Ausschüttung an ausscheidende Versicherungsnehmer rechtlich nicht mehr gewährleistet werden könnte. Da sich das Zinsniveau und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in den kommenden Monaten nicht merklich bessern werden, ist ein Eingriff in die Rechte der Versicherungsnehmer unabdingbar.

Katrin Schmallowsky ist Professorin für Mathematik, Thomas Schmallowsky ist Professor für Wirtschaftsrecht und Steuerrecht. Beide sind an der NBS in Hamburg tätig.

Autor(en): Katrin Schmallowsky, Thomas Schmallowsky

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