Versicherer müssen Kunden wiederentdecken

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Die gerade im Deutschen Bundestag verabschiedete Umsetzung der Versicherungsvertriebsrichtlinie (IDD) mahnt eine neue Kultur der Versicherungswirtschaft im Umgang mit ihren Kunden an. Die vielfältigen Digitalisierungsansätze können dabei helfen.

Versicherer wehren sich gegen ihre „Uberisierung“, wie ein internationaler Top-Manager der Branche vor kurzem auf der Tagung des Europäischen Vermittlerverbands Bipar in Berlin deutlich machte. Seiner Meinung nach hat der Fahrdienstleister Uber kein wirklich neues Geschäftsmodell erschaffen, sondern lediglich rund um den Globus klassischen Taxifahrer aufgeschreckt, die vergessen hätten, wie eine gute Taxidienstleistung aussieht. Saubere Fahrzeuge, adrett gekleidete Fahrer, ein kleines Extra wie eine Flasche Wasser im Auto – und vor allem eine hohe Verfügbarkeit und Pünktlichkeit. Das alles könnten klassische Taxen auch leisten.

Was heißt Service bieten?
Auch Versicherern und traditionellen Vermittlern droht eine solche Uberisierung, wenn sie nicht wahrnehmen, dass ihre Kunden längst anspruchsvoller geworden sind. Alte Traditionen müssen in Frage gestellt werden. So behauptet beispielsweise fast jeder Anbieter, Service zu bieten, kann aber auf Nachfrage nicht mehr als nur Banalitäten und Selbstverständlichkeiten nennen. Zum Beispiel dass man dem Kunden im Schadenfall erläutert, was versichert ist und was nicht, und wie man mit den Schadenformularen zurechtkommt. Sind die zahlreichen Insurtechs die richtige Antwort darauf?

Erfolge kommen nicht über Nacht – aber sie kommen
Vor kurzem nannte ein solches Insurtech auf einer Tagung der TH Köln eine Cross-Selling-Quote von gerade einmal zwei Verträgen, obwohl es mit seinem digitalen Ordner und ergänzenden Services auf die gesamte Kundenverbindung abzielt. Traditionelle Makler dagegen weisen vier Verträge, selbst klassische Ausschließlichkeitsvertreter mehr als zwei Verträge pro Kunde im Durchschnitt auf. Offensichtlich wachsen auch für Insurtechs die Bäume nicht direkt in den Himmel.

Derzeit läuft eine zweite Welle, die vor allem durch die Gründung von Versicherungsunternehmen gekennzeichnet ist, wie unter anderem Ottonova, Flypper oder One. Kennzeichnend ist, dass diese Neugründungen ein Leistungsversprechen der Schnelligkeit der Prozesse und der Einfachheit im Umgang abgeben, womit Versicherungen wieder mehr Freude im Umgang vermitteln sollen. Die umgehende Schadenregulierung per App, die verständlichen Bedingungswerke und die unkonventionelle Kundenabsprache „per Du“ sollen vor allem junge Kunden anlocken.

Gibt gelungene Vorbilder
Auch hier muss sich erst noch beweisen, ob sich so nachhaltig neue Geschäftsmodelle etablieren lassen. Aber es gibt gelungene Vorbilder wie das inzwischen etablierte ehemalige Startup Deutsche Familienversicherung, beispielsweise mit dem täglichen Kündigungsrecht als kundenfreundlichem Feature.

Lernen mit der Richtlinien-Umsetzung
Die kürzliche Umsetzung der Versicherungsvertriebsrichtlinie (IDD) könnte ein Katalysator für die kundenfreundliche Umgestaltung traditioneller Versicherer und Vermittler sein. Dafür sollte ein Fehler aus der Umsetzung der EU-Vermittlerrichtlinie nicht wiederholt werden. Vor zehn Jahren ließen es viele Unternehmen der Branche bei einer einmaligen Umstellung auf die neue Welt der Beratung und Dokumentation bewenden, oft mit Beratungsdokumentationen bestehend aus reinen Textbausteinwerken aus der Angebotssoftware. Auch sonst änderte sich nicht wirklich viel.

Die IDD dagegen enthält sehr anspruchsvolle Prinzipien bereit wie beispielsweise dasjenige, nach dem bestmöglichen Interesse des Kunden zu handeln. Produkte sollen von vornherein so entwickelt werden, dass sie die einschlägigen Risiken einer bestimmten Zielgruppe erfüllen. Die Verkäufer dieser Produkte müssen so geschult sein, dass sie die Produkte kennen und erklären können.

Marktorientierung bei Versicherern und Vermittlern
Das alles erfordert ein massives Umdenken. Versicherungsprodukte dürfen nicht mehr nach den Prinzipien „Was macht der Marktführer, dann schreiben wir das ab“ oder „Was fordert unser Vertrieb“ entwickelt werden. Versicherer müssen lernen, die Kunden bei der Produktentwicklung einzubeziehen. Einbeziehen heißt mehr als nur eine Umfrage unter einigen ausgesuchten Kunden zu machen. Vielmehr geht es darum, aus einem tiefen Verständnis von Kunden durch Befragungen und Beobachtungen Lösungen für deren Sorgen und Nöte zu entwickeln. Dabei dürfen Spartengrenzen, etablierte juristische Dokumentationen und „wir haben das immer schon so gemacht“-Haltungen zunächst keine Rolle spielen. Lösungen werden oft auch nicht ausschließlich aus Versicherungen bestehen, sondern sinnvolle Pakete aus Dienstleistungen sein.

Verkäufer – egal ob Angestellte, Vertreter, Makler oder der neue Versicherungsberater– müssen lernen, von Kundenbedürfnissen ausgehend Lösungen zu suchen anstatt fertige Konzepte zu verkaufen. Das ist für viele Branchenteilnehmer ein tiefgreifender mentaler Wandel. Dieser gelingt nicht über Nacht. Vielmehr sollten sich alle Betroffenen die Zeit lassen, im Rahmen strukturierter Prozesse zu lernen, wie Marktorientierung funktioniert. Die Qualität sollte durch Erfahrungskreise gesichert werden, die aus verschiedenen Bereichen wie „Innendienst“ und „Außendienst“ – auch überkommene Bezeichnungen der alten Welt der Produktfokussierung – zusammengesetzt werden. Versicherer und Vermittler werden lernen, anders zu arbeiten, wenn sie sich offen für Veränderungen zeigen. Notfalls müssen noch mehr Insurtechs Stachel ins Fleisch setzen.

Autor(en): Matthias Beenken

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