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Versicherungskartellrecht

1. Begriff: Kartelle sind Vereinbarungen und Beschlüsse zwischen Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen sowie aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen mit dem Ziel, den Wettbewerb zu beschränken oder zu verfälschen. Versicherungskartelle sind Kartelle unter Beteiligung von Versicherungsunternehmen. Das Versicherungskartellrecht regelt die Rechtsverhältnisse von Versicherungskartellen.

2. Kartellrecht und Versicherungswesen: Kartelle sind grundsätzlich verboten, und zwar sowohl nach europäischem als auch nach deutschem Recht (Art. 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), § 1 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, kurz: GWB). Das Kartellrecht untersagt grundsätzlich jede Zusammenarbeit von Unternehmen (Versicherer oder Vermittler) oder Verbänden, wenn dadurch der Wettbewerb in irgendeiner Weise eingeschränkt wird; die Einschränkung muss spürbar sein (vgl. dazu die Bagatellbekanntmachungen der Europäischen Kommission und des Bundeskartellamts). Absprachen, Empfehlungen oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, z.B. über Prämien, Versicherungsprodukte, Provisionen, Kosten, Geschäftsgebiete oder Kunden, fallen unter das Kartellverbot und sind daher nicht erlaubt. Verboten sind aber nicht nur wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen der Versicherer untereinander (horizontale Wettbewerbsbeschränkungen); auch Absprachen von Versicherern mit Unternehmen anderer Wirtschaftszweige, die sich auf Dritte wettbewerbsschädlich auswirken können (vertikale Wettbewerbsbeschränkungen), sind nicht erlaubt. Die Vorschriften des Art. 101 AEUV und des § 1 GWB gelten nebeneinander, das europäische Recht hat aber insoweit Vorrang, als das nationale Recht dem europäischen Recht nicht widersprechen darf.

3. Ausnahmen vom Verbot: Die strikte Anwendung des sehr weitreichenden Kartellverbots im Versicherungswesen kann jedoch auch insbesondere für die Verbraucher negative Aspekte haben, die den Wettbewerb für die Versicherungsnehmer geradezu einschränken können. Die Europäische Kommission hatte 2003 für horizontale Wettbewerbsbeschränkungen eine Verordnung (Verordnung Nr. 358/2003 v. 27.2.2003 über die Anwendung von Art. 81 III EG-Vertrag (alt) auf Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüssen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Versicherungssektor) erlassen, durch die bestimmte Verhaltensweisen innerhalb der Versicherungswirtschaft vom Kartellverbot freigestellt wurden. Diese Gruppenfreistellungsverordnung (GVO) ist durch eine neue GVO ersetzt worden, die am 1.4.2010 in Kraft trat (Verordnung-EU-Nr. 267/2010 der Kommission v. 24.3. 2010, ABl. L 83 v. 30.3.2010, S. 1) und deutlich enger als die vorherige Verordnung gefasst wurde. Freigestellt werden nunmehr nur noch zwei von den ursprünglich vier Arten von Vereinbarungen auf dem Versicherungssektor über spezifische Formen der Zusammenarbeit: erstens Vereinbarungen über gemeinsame statistische Erhebungen, Tabellen und Studien und zweitens Vereinbarungen über Rück- und Mitversicherungsgemeinschaften. Die letztgenannte Freistellung soll die Deckung neuartiger Risiken ermöglichen; allerdings dürfen bestimmte Marktanteilsschwellen nicht überschritten werden. Die anderen beiden bisherigen Freistellungsbereiche sind weggefallen. Weder Vereinbarungen über Muster allgemeiner Versicherungsbedingungen (vgl. auch Musterbedingungen) noch Vereinbarungen über Sicherheitsvorkehrungen stellen nach Ansicht der Europäischen Kommission Besonderheiten gegenüber anderen Wirtschaftszweigen dar, die eine Sonderbehandlung in Form von Freistellungen rechtfertigen. Das schließt nicht aus, dass auch auf diesem Bereich Einzelfreistellungen infrage kommen können. Anzuwenden ist hier das sog. Prinzip der Selbsteinschätzung, m.a.W. jedes Unternehmen und jeder Verband muss selbst prüfen, ob im Einzelfall ein Verstoß gegen das Verbot wettbewerbswidriger Geschäftspraktiken vorliegt. Dieser Grundsatz gilt für alle Wirtschaftszweige, und damit auch für die Versicherungswirtschaft. Die FreistellungsVO ist bis zum März 2017 gültig; die erneute Überprüfung der Freistellung ist schon in Vorbereitung.

4. Zuständigkeit für die Rechtsverfolgung und Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen das Kartellverbot: Zuständig für die Verfolgung von Missachtungen des Kartellverbots ist grundsätzlich die Europäische Kommission, wenn sich das Kartell maßgeblich auf den Wettbewerb in mehreren Staaten des europäischen Binnenmarkts auswirkt; liegt der Schwerpunkt nur in einem Land, ist die zuständige nationale Kartellbehörde dieses Landes zuständig. Ist eine Absprache nicht gesetzlich oder durch die GVO freigestellt, ist sie zivilrechtlich nichtig (Art. 101 II AEUV, § 1 GWB i.V.m. § 134 BGB). Wegen schuldhaften Verstoßes gegen die Kartellverbote können Geldbußen in erheblicher Höhe verhängt werden. Die Europäische Kommission und die nationalen Kartellbehörden ermutigen beteiligte Unternehmen mit Kronzeugen- oder Bonusregelungen, zur Aufdeckung von Kartellen beizutragen, indem sie Mittel zur Beweisführung vorlegen (vgl. Mitteilung der Kommission, ABL. C 298 v. 8.12. 2006 S. 17; Bekanntmachung des Bundeskartellamts Nr. 9/2006 v. 7.3.2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen).

5. Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung und Fusionskontrolle: Neben dem Kartell ist auch der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung verboten (Art. 102 AEUV, §§ 19-21 GWB). Marktbeherrschung liegt vor, wenn ein Unternehmen oder ein Oligopol keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt ist. Missbrauch wird bejaht, wenn andere, noch im Wettbewerb verbliebene Unternehmen diskriminiert werden oder wenn ihnen unangemessene Einkaufs- oder Verkaufspreise oder Geschäftsbedingungen unmittelbar oder mittelbar aufgezwungen werden. Für den Fall von Zusammenschlüssen von Unternehmen oder der gemeinsamen Gründung eines Unternehmens durch mehrere Versicherer sind auch die Vorschriften über die Fusionskontrolle zu beachten (Verordnung Nr. 139/2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, FKVO; §§ 35‑43 GWB).

Autor(en): Dr. Helmut Müller

 

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