Deutschland altert? Nein, Deutschland ist alt

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„Deutschland ist alt, Deutschland ist schon seeehhhrrr alt“. So die klare Ansage von Professor Bernd Raffelhüschen, Professor für Finanzwissenschaft und Direktor des Forschungszentrums Generationenverträge an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, auf der Online-Jahrestagung der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) und der Deutschen Gesellschaft für Versicherungs- und Finanzmathematik (DGVFM).

Bernd Raffelhüschen ist bekannt für seine klaren Worte, aber auch für seine markigen Worte, für seine kalkuliert schnoddrige Art, seinen intelligenten Attacken, die aber nicht selten arrogant-allwissend daherkommen. Das hat er wieder mal auf der Jahrestagung der mitgliederstarken Aktuarvereinigung bewiesen. Stolze 1.400 Teilnehmer konnte die Tagung am ersten Tag und bei ihrer ersten „Session zur Altersvorsorge“ vermelden. 1.400 Personen, die auch dem Vortrag von Raffelhüschen über die alternde deutsche Gesellschaft und der – reformwürdigen - Altersvorsorge in Deutschland per Video-Liveschaltung folgten und sie per Chat – positiv - kommentierten.

Alterungsprozess in Deutschland „schon voll im Gange“

Der Finanzexperte schimpfte derweil lautstark über die geburtenstarken Jahrgänge, die es versäumt hätten, genügend Kinder in die Welt zu setzen, um das deutsche Rentensystem zu festigen und lieber „meist nur mit einem Kind und einem Hund unterwegs“ wären. Die logische und brutale Folge dieses (Fehl-)Verhaltens: Ab 2040 muss „ein Erwerbstätiger einen Alten versorgen“. Über die Eintrittswahrscheinlichkeit eines derartigen Szenarios müsse gar nicht mehr diskutiert werden, also nicht darüber, ob und wann und wie der Alterungsprozess in Deutschland beginne, dieser sei „schon voll im Gange“.

Auch die Corona-Pandemie und ihre Folgen könnten hier das Bild nicht wirklich drehen, wie manche Vertreter aus Politik und Wirtschaft glauben machen wollten. O-Ton Raffelhüschen: „Corona hat nichts an der Fertilität geändert und auch nichts an der Sterblichkeit in Deutschland. 2020 war ein Jahr mit ganz normalen Todesraten.“

Forderung: Fünf bis sieben Prozent des Bruttoeinkommens investieren

Und wie sieht es mit dem künftigen Rentenniveau aus? Künftig wäre ein Nettorentenniveau von 70 Prozent nur dann noch möglich, wenn die Menschen mehr betrieblich und privat sparen würden. Wenn sie dazu nicht bereit wären, würde dies schwierig. Gut fünf bis sieben Prozent des Bruttoeinkommens müssten die Bundesbürger hierfür berappen, sonst sähe es düster aus. Aber da die Babyboomer ihren Beitrag – eben mehr Kinder in die Welt zu setzen – nicht geleistet hätten, würde das gesetzliche Rentenniveau in gut 20 Jahren bei mageren 40 Prozent liegen. Selber schuld, so die indirekte Aussage des wissenschaftlichen Poltergeistes. Und wie sieht es mit den Rentenbeiträgen aus? Die kann man künftig nur konstant halten, wenn endlich keine Bundeszuschüsse mehr flössen, meint Raffelhüschen.

Nach dem Statement von Raffelhüschen, das auch mit viel Schelte für ehemalige Bundesarbeitsminister wie Andrea Nahles und Olaf Scholz sowie viel Lob für die Agenda 2010 von Gerhard Schröder gespickt war, kamen zwei gestandene politische Vertreter in einer „Panel Diskussion“ zu Wort, die zeigten, dass wirtschaftliche Sachkenntnis auch in sachlichem Ton vorgetragen werden und trotzdem überzeugen kann. Geladen waren Markus Kurth, Rentenpolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, und Peter Weiß, Rentenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion.

Wichtig: Ein guter Mix aus verschiedenen Maßnahmen

Besonders Kurth war es wichtig, die „Showeinlagen“ von Raffelhüschen zu neutralisieren und wehrte sich gegen die Angriffe von diesem, ihn und die Menschen seiner Babyboomer-Generation vor allem als „Verursacher eines Fiaskos“ und „Rohrkrepierer“ zu stigmatisieren. Außerdem konnte er nicht wie der Freiburger Wissenschaftler „so schwarz sehen“, sondern zeigte sich überzeugt, dass „ein guter Mix aus verschiedenen Maßnahmen“ dazu beitragen könne, das deutsche Rentensystem zukunftssicher zu machen. Dazu gehören seiner Ansicht nach: altersgerechtes Arbeiten/altersgerechte Arbeitsplätze, eine gesteigerte Frauenerwerbstätigkeit, Steuererhöhungen – in Maßen, höhere Beitragssätze – in Maßen und auch eine Zuwanderung auch in Maßen. Vor allem der Pflegesektor sei ohne diese gelenkte Zuwanderung nicht überlebens- und zukunftsfähig.

Kurth machte sich auch stark dafür, dass die gesetzliche Rentenversicherung „nicht nur als bessere Grundsicherung“ für die Bürger fungieren dürfe, sondern als Einkommensversicherung. „Eine Rentenversicherung muss dies leisten“, so der erfahrene Rentenexperte.

„Die Arbeit muss ja noch Spaß machen“

Auch Peter Weiß erklärte seine Offenheit für leicht steigende Beitragssätze, aber eben nur bis zu einer gewissen Grenze. Vor allem an die junge Generation müsse hier das Signal gesendet werden, dass sie nur begrenzt belastet würden, denn „die Arbeit muss ja noch Spaß machen“.

Vor allem mit einem Seitenhieb auf den Koalitionspartner SPD betonte er noch, dass künftig tatkräftiger an der Stabilität der gesetzlichen Rentenversicherung gearbeitet werden müsse. Dies sei in den vergangenen acht Jahren nicht wirklich erfolgt. „Das muss die neue Regierung engagierter anpacken“, forderte er in der virtuellen Runde.  

Nachhaltigkeitsfaktor oder Nachholfaktor?

Eine hitzige Debatte entfachte sich noch zwischen den Rentenexperten bei den Schlagworten „Nachhaltigkeitsfaktor“ und „Nachholfaktor“.

Raffelhüschen behauptete dabei, dass die Bundesregierung den Nachhaltigkeitsfaktor abgeschafft hätte und man aber wieder zu „aktuarisch fairen Abschlüssen“ kommen müsse. Weiß dementierte. Die Regierung hätte den Nachhaltigkeitsfaktor keinesfalls abgeschafft. Er werde auch weiterhin von allen politischen Parteien gewollt, außer der Linken.   

Definitionen (Auszüge) laut Gabler Wirtschaftslexikon:
"Der Nachholfaktor ist ein Bestandteil der Rentenanpassungsformel der gesetzlichen Rentenversicherung und soll bewirken, dass vor der jährlich erfolgenden Rentenanpassung zunächst berücksichtigt wird, ob in der Vergangenheit eigentlich notwendig gewesene, aber unterbliebene Rentenkürzungen (aufgrund des Riester-Faktors oder des Nachhaltigkeits-Faktors) eine nachträgliche Würdigung finden können.

Dies hat zum Beispiel dazu geführt, dass der Rentenwert im Jahre 2006 unverändert geblieben ist, obwohl eigentlich eine Rücknahme hätten erfolgen müssen. Für die Jahre 2008 und 2009 wurde der Nachholfaktor ausgesetzt, im Jahre 2010 wurde eine Rentenkürzung nur durch die Rentengarantie der Bundesregierung vermieden. Der Nachholfaktor ist in den Jahren 2011, 2012 und 2013 berücksichtigt und nach Angaben des Rentenversicherungsträgers vollständig verrechnet worden, sodass er bei künftigen Berechnungen - gleichbleibende Verhältnisse vorausgesetzt - nicht mehr angewendet wird. …

Zur Ergänzung der Rentenformel in der gesetzlichen Rentenversicherung eingeführter Faktor, der bewirkt, dass der Anstieg der Renten bei einer Erhöhung der Zahl der Rentner im Verhältnis zur Zahl der Beitragszahler gedämpft wird und die Beitragszahler dadurch entlastet werden (§ 68 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3, Abs. 4 SGB VI). Die jährliche Rentenanpassung wird durch den Nachhaltigkeitsfaktor vom Verhältnis von Rentnern zu Beitragszahlern abhängig gemacht. Das bedeutet, dass sich die Rentenanpassung vermindert, wenn sich die Zahl der Rentner zulasten der Beitragszahler verändert und umgekehrt."

Autor(en): Meris Neininger

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