Lernen im Jahr 2100

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Der Gedanke ist nicht neu. Schon im 17. Jahrhundert befasste sich Georg Philipp Harsdörffer in seinem Werk "Poetischer Trichter, die Teutsche Dicht- und Reimkunst in sechs Stunden einzugießen" mit der Frage: Kann man Gedichte ohne stupides Repetieren lernen? Die Wunschvorstellung vom "Nürnberger Trichter" war geboren. Seitdem lässt dieser Traum die Menschheit nicht los. Immer wieder werden neue Techniken entwickelt, die angeblich ein Lernen im Schlaf ermöglichen. Einige sind recht simpel. Noch heute hegen manche Schüler die Illusion, ein "Vokabelheft unter dem Kopfkissen" können das Pauken ersetzen.

Auch Erwachsene träumen gerne vom "Lernen ohne Schweiß". Scharenweise pilgerten sie zum Beispiel vor knapp 20 Jahren zu so genannten Superlearning-Seminaren, um dort bevorzugt Fremdsprachen "wie im Schlaf" zu lernen. Offensichtlich mit geringem Erfolg! Zumindest sind inzwischen fast alle Institute, die damals das suggestopädische Lernen propagierten, vom Markt verschwunden.

Lernen im Schlaf - ein Menschheitstraum
Doch ist der Traum von "Nürnberger Trichter" damit ausgeträumt? "Nein", sagt die Wiener Trainer- und Coachausbilderin Sabine Prohaska, "dies bleibt ein Menschheitstraum." Auch weil bei jedem Versuch, den diesen zu konstruieren, neue lerntheoretische Erkenntnisse gewonnen werden. So fand zum Beispiel in Zusammenhang mit der Debatte über die Suggestopädie eine breite Diskussion darüber statt, welche Prozesse im menschlichen Gehirn beim Lernen ablaufen. Allgemeinwissen wurde: Die Lerneffizienz steigt, wenn beim Lernen mehrere Sinneskanäle angesprochen werden. Zudem setzte sich die Erkenntnis durch: Es ist sinnvoll, Bilder vom Lernstoff im Kopf des Lerners zu verankern. Also leistete "auch die Diskussion über die Suggestopädie einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Lernmethoden", davon ist Prohaska überzeugt.

Noch weiter geht Michael Schwartz, Geschäftsführer des Ilea-Instituts, Esslingen. Seines Erachtens ist der Traum vom "Nürnberger Trichter" heute lebendiger denn je. "Denn die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien eröffnen uns Möglichkeiten, Wissen zu generieren, von denen wir vor 20 oder 30 Jahren noch kaum zu träumen wagten." Zugleich prasseln aber auf jeden Einzelnen Tag für Tag so viele Infos ein, dass es uns immer schwerer fällt, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. 80 Prozent der Bundesbürger äußern denn auch in Umfragen, sie hätten ab und zu das Gefühl, dass sich die Welt zu schnell dreht. Sie fühlen sich von der Daten- und Infoflut überfordert. Werden diese Personen, so Schwartz, dann noch mit der Forderung konfrontiert, lebenslang zu lernen, gerät mancher in Panik. Oder er wünscht sich einen modernen "Nürnberger Trichter", der nicht nur Wissen in seinen Kopf einfließen lässt, sondern die Information auch filtert.

Die Zukunft ist nur bedingt vorhersehbar
"Das menschliche Denken ist nicht abstraktionsfähig genug, um sich vorzustellen, was in 100 Jahren Realität sein könnte", betont Dr. Georg Kraus, Geschäftsführer der Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner, Bruchsal. "Für die nächsten zehn, zwanzig Jahre lassen sich noch ein paar Trends voraussagen. Doch danach beginnt das Reich der reinen Spekulation." Wissenschaftler äußern sich noch vorsichtiger. "Wir können froh sein, wenn wir abschätzen können, was in fünf Jahren Realität sein wird", meint zum Beispiel Professor Karl Müller-Siebers, Präsident der Fachhochschule für die Wirtschaft (FHDW), Hannover. Spekulationen darüber, was in 100 oder gar 1000 Jahren Realität sein könnte, erachtet er als "wissenschaftlich unseriös".

Trotzdem kann man sich solchen Tagträumen hingeben, zumal sich in der Arbeitswelt, die das berufsbezogene Lernen prägt, durchaus einige Entwicklungslinien skizzieren lassen. So ist heute etwa in den meisten Betrieben ein Arbeiten ohne die neuen Kommunikations- und Informationstechnologien kaum noch vorstellbar. Deshalb sind sich die Experten einig: Mittelfristig wird sich zumindest die Vermittlung kognitiver Lerninhalte fast ganz in den virtuellen Raum verlagern. Und weil der Lernbedarf aufgrund der rasanten technischen Entwicklung immer größer wird, wird manch Arbeitnehmer irgendwann an die Grenzen seiner Lernfähigkeit und -bereitschaft stoßen. "Mein Speicher ist voll" wird er dann resignierend sagen. Oder er träumt davon, dass eine Maschine Teilaufgaben des Gehirns übernimmt.

Ein Gehirnschrittmacher als Unterstützung?
Eine solche Unterstützung des menschlichen Denkapparates, zum Beispiel in Form eines "Gehirnschrittmachers", ist durchaus denkbar. "Vielleicht können wir in 100 Jahren über ein neuronales Interface ganze Wissensblöcke in unsere Köpfe laden, die sich dort zu einem Ganzen zusammenfügen", mutmaßt der Diplom-Physiker Michael Schwartz.

Wissen und Weisheit sind zwei Paar Schuh
Ob solche Wege irgendwann beschritten werden, ist auch eine Frage der Ethik. "Nicht alles, was wir können, sollten wir tun", wirft Prohaska ein. Denn das Lernen sei "ein Prozess, der zwar oft mit Mühen verbunden ist, aber auch Befriedigung bringt - wenn er von Erfolg gekrönt ist." Wenn diese beiden Komponenten entfallen, bleibt vom heutigen Lernen nichts mehr übrig. Doch keine Angst! Vermutlich wird es dieses Lernen auch in 100 Jahren noch geben. Denn so Unternehmensberater Kraus: "Daten und Fakten können wir vielleicht irgendwann in die menschlichen Köpfe verpflanzen, Weisheit nicht."

Bild: © Andrey Voskressenskiy / iStock / thinkstockphotos.com

Autor(en): Bernhard Kuntz

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