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Obliegenheitsverletzung

1. Begriff: Verletzung von Verhaltenspflichten des Versicherungsnehmers, teils auch des Versicherten oder sonstiger Dritter, die zu beachten sind, damit der Anspruch auf Versicherungsschutz entsteht oder fortbesteht.

2. Rechtsfolgen: Obliegenheitsverletzungen führen nicht zu Schadensersatzansprüchen des Versicherungsunternehmens – im Gegensatz zu Verletzungen von (echten) Rechtspflichten (wie die Prämienzahlungspflicht). Allerdings führen Obliegenheitsverletzungen zur Beendigung des Versicherungsvertrags und/oder zur Leistungsfreiheit des Versicherungsunternehmens, also zum Verlust des Versicherungsanspruchs auf Seiten des Versicherungsnehmers. Leistungsfreiheit des Versicherungsunternehmens ist im Übrigen auch bei Prämienverzug als probates Druckmittel gegen den Versicherungsnehmer vorgesehen. § 278 BGB, wonach dem Schuldner das Verschulden seiner Erfüllungsgehilfen zugerechnet wird, findet auf Obliegenheitsverletzungen durch vom Versicherungsnehmer hinzugezogene Hilfspersonen keine Anwendung. Diese Lücke wird teilweise durch die Haftung des Versicherungsnehmers für seine Repräsentanten, Wissenserklärungs- und Wissensvertreter geschlossen. Die Trennung zwischen Rechtspflichten und Obliegenheiten ermöglicht auch die Belastung Dritter, wie mitversicherter Personen, mit vereinbarten Obliegenheiten zu erklären (§ 47 I VVG, ohne die frühere Beschränkung auf gesetzliche Obliegenheiten wie in § 79 I VVG a.F.). Bei den gesetzlichen Obliegenheiten fehlen zuweilen Regelungen von Sanktionen im Versicherungsvertragsgesetz (VVG), wie z.B. bei der Anzeige des Versicherungsfalls (§ 30 VVG). Die Sanktionen werden dann vertraglich in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) vereinbart. Die Vereinbarung von Verletzungsfolgen muss die Vorgaben der Rahmenvorschrift des § 28 VVG beachten.

3. Details: a) Beendigung des Versicherungsvertrags: Bei vorvertraglicher Anzeigepflichtverletzung kann das Versicherungsunternehmen vom Versicherungsvertrag zurücktreten oder kündigen. Diese Rechte entfallen durch Vertragsanpassung. Bei Gefahrerhöhung gibt es ein Kündigungsrecht des Versicherungsunternehmens, nach dessen Wahl auch die Möglichkeit zur Vertragsanpassung. Bei Verletzung vereinbarter Obliegenheiten vor dem Versicherungsfall steht dem Versicherungsunternehmen ein Kündigungsrecht zu (§ 28 I VVG; die Kündigungspflicht nach § 6 I S. 3 VVG a.F. ist entfallen), eine Vertragsanpassung ist hier nicht vorgesehen.
b) Leistungsfreiheit: Die VVG-Reform hat die Sanktion der Leistungsfreiheit bei Obliegenheitsverletzungen neu gestaltet und (weitgehend) vereinheitlicht (siehe früher: Alles-oder-Nichts-Prinzip). Die Neuerungen betreffen in erster Linie den Verschuldensmaßstab und das Kausalitätsprinzip. Einfache Fahrlässigkeit führt überhaupt nicht mehr zur Leistungsfreiheit (Ausnahme: § 58 I VVG für die laufende Versicherung). Bei grober Fahrlässigkeit ersetzt die Quotierung, d.h. Leistungskürzung entsprechend der Schwere des Verschuldens, die vollständige Leistungsfreiheit, die nur noch bei Vorsatz in Betracht kommt. Vorsatz muss das Versicherungsunternehmen nachweisen, bisherige Vorsatzvermutungen sind entfallen; Ausnahme: vorvertragliche Anzeigepflichtverletzung (§ 19 III S. 1 VVG). Das Kausalitätsprinzip gilt nunmehr allgemein, die „Lücken“ des alten Rechts sind entfallen. Lediglich bei Arglist kommt es auch nach neuem Recht auf Kausalität nicht an (Ausnahme: § 26 II Nr. 1 VVG bei Gefahrerhöhung, Analogie zur Arglistausnahme wie in § 28 III S. 2 VVG). Belehrungspflichten des Versicherungsunternehmens über die Rechtsfolgen von Obliegenheitsverletzungen sind bei vorvertraglicher Anzeigepflichtverletzung (§ 19 V S. 1 VVG) und bei Verletzung vereinbarter Auskunfts- und Aufklärungsobliegenheiten nach dem Versicherungsfall (§ 28 IV VVG) vorgesehen.

4. Haftung des Versicherungsnehmers für Dritte: Betrifft Repräsentanten (Repräsentantenhaftung), Wissenserklärungsvertreter und Wissensvertreter.

Autor(en): Prof. Dr. Roland Michael Beckmann, Professor Dr. Helmut Schirmer

 

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