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Behavioral Insurance

1. Begriff und Entwicklung

Behavioral Insurance bezeichnet die Analyse von Angebot und Nachfrage im Versicherungsmarkt aus verhaltenswissenschaftlicher Sicht.

Ergebnisse aus der Verhaltensforschung, insbesondere der Sozialpsychologie, der kognitiven Psychologie und der Neuro-Forschung, haben das in den Wirtschaftswissenschaften lange gehegte Bild vom rational handelnden Menschen und von effektiven Märkten, die mögliche Abweichungen (Anomalien) im Zeitverlauf automatisch ausgleichen, revidiert. Spätestens seit der Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises an den Psychologen Daniel Kahneman in 2002 haben diese Erkenntnisse zu einem breiten Umdenken und zu einer Etablierung einer eigenen Teildisziplin geführt, der Verhaltensökonomie oder Behavioral Economics. In der Erforschung der Finanzmärkte hat sich zudem der Begriff der Behavioral Finance etabliert. Analog dazu findet – bezogen auf die Versicherungsmärkte – zunehmend der Terminus der Behavioral Insurance Verwendung.

2. Grundannahmen der Behavioral Economics

Die Arbeiten von Daniel Kahneman, Amos Tversky und zahlreichen anderen Forschern haben u.a. gezeigt:

  • Unsere Handlungen sind meist nur oberflächlich gesteuert. Sie unterliegen Automatismen, Gewohnheiten und stark vereinfachten Entscheidungsregeln (sog. Heuristiken). Diese Regeln sind effizient und i.d.R. auch effektiv; sie erlauben uns somit eine zeit- und energiesparende Alltagsbewältigung. Sie führen aber auch regelmäßig zu falschen Annahmen und ungünstigen Entscheidungen.
  • Unsere Wahrnehmung der Umwelt weicht systematisch und vorhersehbar von der Realität ab (sog. Biases). Auch unser Selbstbild ist höchst ungenau. Wir überschätzen uns, unsere Kompetenz, unsere Einflussmöglichkeiten und die Rationalität unseres Handelns.
  • Wir scheuen Risiken und lieben Sicherheit, um in bestimmten Situationen dann doch alles auf eine Karte zu setzen. Auch Wahrscheinlichkeiten gewichten wir in unseren Entscheidungen nicht entsprechend ihrer tatsächlichen Bedeutung. So berücksichtigen wir sehr geringe Wahrscheinlichkeiten zu stark (Möglichkeitseffekt), während mittlere Wahrscheinlichkeiten tendenziell untergewichtet werden.
  • Dabei hängen unsere Entscheidungen in hohem Maße von der Situation und der Formulierung des zu lösenden Problems ab. Je nach Darstellung von faktisch gleichen Entscheidungssituationen (sog. Framing) kommen wir so zu ganz gegensätzlichen Entschlüssen.

Ein wesentliches Erklärungsmodell hinter diesen und zahlreichen weiteren vom rationalen Verhaltensmodell abweichenden Beobachtungen ist die Annahme zweier unterschiedlicher kognitiver Systeme. In der Terminologie von Kahneman bezeichnet System 1 die weitgehend automatische, teils unbewusste, teils wenig bewusste Informationsverarbeitung und Handlungssteuerung. Dabei lassen wir uns stark von Emotionen leiten, greifen auf Gewohnheiten, soziale Normen oder andere deutliche vereinfachte Entscheidungsmuster zurück und vernachlässigen nicht sofort zugängliche Informationen. System 2 bezeichnet dagegen die bewusste, kontrollierte Informationsverarbeitung.

System 1 arbeitet weitgehend mühelos und verfügt über hohe Verarbeitungskapazitäten. System 2 hat weitaus geringere Kapazitäten, verlangt Konzentration und verbraucht viel Energie. Durch diese ungleichen Voraussetzungen und das Bestreben, (geistige) Anstrengungen zu vermeiden, wird unser Verhalten weitaus mehr durch System 1 als durch System 2 gesteuert. Selbst „bewusst“ getroffene Entscheidungen unterliegen immer noch einem großen Einfluss durch System 1 und dienen vielfach eher der Bestätigung einer vorgefassten Meinung oder eines bestehenden Handlungsimpulses als deren ernsthafte Überprüfung.

In zahlreichen Experimenten, aber auch in hypothesengestützten Untersuchungen von realen Entscheidungen zeigte sich, dass sich diese Effekte nicht nur auf Einschätzungen und Entscheidungen von Laien auswirken, sondern ebenso auf die von Managern, Investmentbankern, Richtern, Ärzten, Politikern oder auch von Underwritern in Erst- und Rückversicherungsunternehmen. Selbst gemeinsam in Gruppen getroffene Entscheidungen sind nicht immun, sondern können durch Konformitätseffekte sogar besonders irrational ausfallen – mit oft fatalen Folgen.

3. Versicherungspsychologie

Weitgehend analog zum Begriff der Behavioral Insurance lässt sich auch der Begriff Versicherungspsychologie verwenden, also die Psychologie als Wissenschaft vom menschlichen Denken, Fühlen und Handeln, angewandt auf die Akteure in den Versicherungsmärkten. Der Unterschied liegt primär in der Perspektive des Forschers: Während die (Versicherungs‑)Psychologie das Verhalten auf Basis allgemeiner verhaltenswissenschaftlicher Theorien zur Wahrnehmung, zu Emotionen, Kognitionen, Motivationen und Entscheidungsstilen erklärt, fokussieren die Behavioral Economics (und damit auch Behavioral Insurance), wie an den oben dargestellten Grundannahmen deutlich wird, auf das Aufzeigen und Erklären von Abweichungen des beobachteten Marktverhaltens gegenüber dem fiktiven Ideal eines rationalen, nutzenmaximierenden Entscheiders („Homo Oeconomicus“). Behavioral Insurance ist also durch den „Innenblick“ von Wirtschaftswissenschaftlern auf die Psychologie, Versicherungspsychologie durch den „Außenblick“ von Verhaltensforschern auf das Anwendungsfeld der Versicherungswirtschaft gekennzeichnet. Da es sich aber letztendlich um Erklärungsansätze für die gleichen realen Phänomene handelt, wird auf eine Abgrenzung im Weiteren verzichtet.

4. Themenfelder

Auf Basis der Erkenntnisse aus Psychologie und Behavioral Economics lässt sich das Verhalten der Teilnehmer im Versicherungsmarkt besser verstehen und somit auch prognostizieren. Im Folgenden sind für den Versicherungsmarkt besonders relevante Themenfelder aufgezeigt, von denen die ersten vier typische Fragestellungen der Behavioral Economics aufgreifen und die übrigen Themen auf das weitergefasste Repertoire sozialpsychologischer Theorien zurückgreifen.

  • Entscheidungsfindung: Die Art und der Umfang der genutzten Informationen, der Entscheidungsaufwand, die Nutzung von Heuristiken sowie der Einfluss von Motiven, Emotionen und Intuitionen prägt die Kaufentscheidungen von privaten und institutionellen Versicherungskäufern. Dies erklärt typische Verhaltensweisen, Verhaltensunterschiede zwischen Kundengruppen und zahlreiche beobachtete Anomalien im Versicherungsmarkt.
    Wahrnehmung und Gewichtung von Risiken: Hier gibt es, wie schon dargestellt, wesentliche und systematische Abweichungen zwischen objektiven Risiken und den von den Nachfragern wahrgenommenen subjektiven Risiken. Zusammen mit einer nicht-linearen Gewichtung der subjektiven Wahrscheinlichkeiten dieser Risiken führt dies zu deutlichen Verzerrungen in der Risikobeurteilung und Entscheidungsfindung.
  • Risikobereitschaft: Neben der Wahrnehmung von Risiken ist die Bereitschaft, diese dann auch einzugehen oder aber zu mindern, zu vermeiden oder (auf Versicherer) zu übertragen, eine Kernfrage für das Verständnis der Versicherungsmärkte. Anders als in der klassischen Entscheidungstheorie angenommen lässt sich keine grundsätzliche Risikoaversion der Akteure unterstellen. Laut der von Kahneman und Tversky anhand empirischer Beobachtungen entwickelten „Neuen Erwartungstheorie“ („Prospect Theory“) überwiegt Risikoaversion, wenn es um die Entscheidung zwischen potenziellen Gewinnen geht. Bei der Wahl zwischen potenziellen Verlusten dominiert dagegen Risikosuche, bis hin zu hasardierendem Verhalten. Da identische Entscheidungsprobleme in der Ausgangslage je nach Formulierung und Referenzpunkt sowohl als Gewinn- als auch als Verlustsituation dargestellt werden können, resultieren je nach Entscheidungssituation gegensätzliche Verhaltenstendenzen. Auch Versicherungsprämien lassen sich demnach ganz unterschiedlich beurteilen, je nachdem ob sie als „sicherer, kleiner Verlust“ verstanden werden oder als „Preis“, den der Kunde bezahlt, um in ein besseres Risikoszenario zu wechseln.
  • Anlegen und Investieren: Auch die Erwartungen und Entscheidungen von Sparern und Investoren sind Gegenstand von Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsheuristiken. Viele Anomalien lassen sich ebenso bei institutionellen wie bei privaten Anlegern nachweisen und finden sich auch auf der aggregierten Ebene der Finanzmärkte wieder. Behavioral Finance oder die Finanzpsychologie erklären auf dieser Basis Spar- und Anlageentscheidungen sowie irrationale Bewegungen an den Märkten.
  • Zukunftsorientierung und Vorsorgebereitschaft: Vorsorge bedeutet, nicht nur an die Zukunft zu denken, sondern auch in der Gegenwart Verzicht zu üben. Zahlreiche Untersuchungen zeigen die Grenzen unserer Fähigkeit zum Belohnungsaufschub, und wie sich die Selbstkontrolle stärken lässt.
  • Vertrauen und Gerechtigkeit: Versicherungen sind in hohem Maße Vertrauensprodukte. Entsprechend wichtig ist die Frage, welche Ereignisse das Vertrauen zwischen Kunde und Versicherer begründen oder aber erschüttern. Eng damit verbunden sind die subjektiven Vorstellungen von Gerechtigkeit. Die Forschung zeigt, dass je nach Thema, Situation und Erfahrung ganz unterschiedliche Konzepte von Gerechtigkeit zugrunde gelegt werden. Dies wiederum bestimmt in hohem Maße die Akzeptanz von Anbietern, Produktkonzepten oder der Schadenregulierung, aber auch von Rahmenbedingungen z.B. aus der (Sozial‑)Politik.
  • Moral und Ehrlichkeit: Der aus der Spieltheorie bekannte Begriff des Moral Hazard betrifft im Versicherungsbereich v.a. die Unterlassung von Maßnahmen zur Reduktion von Risiken aufgrund des vorhandenen Versicherungsschutzes sowie i.w.S. die Ausnutzung von Informationsasymmetrien durch falsche Angaben im Rahmen der Risikoprüfung oder im Schadenfall. Die Versicherungspsychologie zeigt Bedingungen, unter denen Menschen auch ohne direkten Eigennutz mehr oder weniger verantwortlich handeln sowie Rahmenbedingungen, in denen Menschen sich stärker oder weniger stark an ihrem eigenen moralischen Selbstbild orientieren.
5. Praktische Relevanz

Die Erkenntnisse der Behavioral Insurance dienen sowohl (1) den Nachfragern und (2) den Anbietern als auch (3) der Politik (als Gestalter der Rahmenbedingungen) als Basis zur Ableitung von Handlungsstrategien.

Ad (1): Versicherungskunden sind häufig „falsch“ versichert. Risiken mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit, geringer „Vorstellbarkeit“ und mit hohem potenziellem Schaden, z.B. durch Naturgefahren oder Berufsunfähigkeit, sind tendenziell unterversichert. Andere Risiken werden häufig überschätzt und sind überversichert. Dazu gehören bspw. Unfallrisiken oder aber mögliche Bagatellschäden, die der Versicherte leicht selbst tragen könnte. Schließlich ist auch die Ausgestaltung des Risikoschutzes unter Preis-Leistungs-Aspekten oft irrational, z.B. durch Verzicht auf prämiensenkende Selbstbeteiligungen oder durch den unzureichenden Vergleich von Angeboten. Kunden – und damit auch der Verbraucherschutz – können daraus gezielte Strategien für ein besseres, rationaleres Versichern ableiten. Ebenso lassen sich Vorsorge- und Anlageentscheidungen verbessern.

Ad (2): Versicherer lernen, ihre Maßnahmen besser auf den Kunden auszurichten. Dies umfasst die Gestaltung von Produkten, Preisen oder der Werbung. Dies betrifft aber auch die laufende Kundenkommunikation zum Aufbau von Bindung und Vertrauen. Einen besonderen Beitrag kann die Psychologie zudem zur Schadenminderung und Betrugsprävention leisten, indem bspw. Schaden- und Betrugsanlässe reduziert und die moralische Schwelle zum Betrug erhöht werden. Schließlich zeigen Ergebnisse der Behavioral Finance Wege zu einer optimierten Anlagepolitik, und Ergebnisse der institutionellen Entscheidungsforschung helfen, die Annahmepolitik und die Tarifierung weiter zu optimieren und so z.B. irrationale Preis- und Angebotszyklen zu vermeiden.

Ad (3): Der Politik zeigt die Behavioral Insurance Notwendigkeiten und Instrumente, aber auch mögliche Grenzen der Regulierung. Wie lässt sich systematische Unterversicherung, z.B. gegen Flutrisiken oder in der Altersvorsorge, vermeiden? Wo muss der Kunde, wo der Anbieter gegen die Folgen von Intransparenz, verzerrter Wahrnehmung oder oberflächlicher Entscheidungsmuster geschützt werden? Empfehlen sich dazu eher (a) Ge- und Verbote („strenger Paternalismus“, z.B. in Form einer Pflichtversicherung gegen Naturrisiken), (b) die Setzung von Anreizen und die Änderung von Entscheidungssituationen („libertärer Paternalismus“ z.B. durch Steuervorteile, Zuschüsse oder Opting-Out-Modelle) oder (c) Aufklärungsmaßnahmen bei ansonsten freier Entfaltung des Markts? Schließlich zeigen die unterschiedlichen Gerechtigkeitskonzepte die Grenzen eines freien Versicherungsmarkts. Während für zahlreiche Risiken eine private Absicherung mit risikogerechter, zunehmend individualisierter Prämienkalkulation gesellschaftlich durchaus akzeptiert ist („Leistungsprinzip“), stehen dem in anderen Lebensbereichen abweichende Gerechtigkeitsvorstellungen entgegen („Gleichheitsprinzip“, „Bedürftigkeitsprinzip“), die eher Lösungen im Sinne von Sozialversicherungen oder staatlichen Transfers fordern.

Literatur: Ariely, D., Predictably Irrational: The Hidden Forces That Shape Our Decisions, New York 2008; Beck, H., Behavioral Economics: Eine Einführung, Berlin u.a. 2014; Daxhammer, R.J./Facsar, M., Behavioral Finance, Konstanz und München 2012; Fischer, L./Kutsch, T./Stephan, E. (Hrsg.), Finanzpsychologie, München 1999; Gigerenzer, G., Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, München 2008; Kahneman, D., Schnelles Denken, langsames Denken, München 2011; Kahneman, D./Tversky, A., Prospect theory: An analysis of decision under risk, in Econometrica, Bd. 47, 1979, S. 263–292; Koeneke, V./Müller-Peters, H./Fetchenhauer, D., Versicherungsbetrug verstehen und verhindern, Wiesbaden 2015, in: Kunreuther, H. C./Pauly, M. V./McMorrow, S., Insurance and behavioral economics: Improving decisions in the most misunderstood industry, Cambridge u.a. 2013; Müller-Peters, H. (Hrsg.), Behavioral Economics: Revolution im Menschenbild – Revolution in den Methoden? marktforschung.dossier, März 2015, URL: www.marktforschung.de/hintergruende/themendossiers/behavioral-economics/ (Abruf: 19.11.2015); Müller-Peters, H. (Hrsg.), Competence Site Versicherungspsychologie und Behavioral Insurance, URL: http://www.behavioralinsurance.de (Abruf: 19.11.2015); Richter, A./Schiller, J./Schlesinger, H., Behavioral insurance: Theory and experiments, in: Journal of Risk and Uncertainty, 2014, H. 48, S. 85–96; Scheier, C./Held D., Wie Werbung wirkt: Erkenntnisse des Neuromarketing, Freiburg 2008; Thaler, R. H./Sunstein, C. R., The Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt, 4. Aufl., Berlin 2014; Wiswede, G., Einführung in die Wirtschaftspsychologie, 5. Aufl., München u.a. 2012.

Autor(en): Prof. Dr. Horst Müller-Peters

 

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