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Private Pflegeversicherung

Mit Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung zum 1.1.1995 wurden alle gesetzlich krankenversicherten Bürger in der sozialen Pflegeversicherung und alle Vollversicherten der privaten Krankenversicherung in der privaten Pflegeversicherung pflichtversichert. Während die Leistungen dieser beiden Systeme übereinstimmen, unterscheiden sich die Finanzierungskonzepte erheblich: Im Gegensatz zur privaten Pflegepflichtversicherung, die mit Kapitaldeckung arbeitet, liegt der sozialen Pflegeversicherung ein Generationenvertrag zugrunde. Die private Pflegepflichtversicherung bildet im Rahmen des demografieresistenten Kapitaldeckungsverfahrens für jeden Jahrgang Altersrückstellungen zur Finanzierung der zu erwartenden Pflegeausgaben. Dieses Vorgehen trägt dem Umstand Rechnung, dass das Pflegerisiko mit dem Alter signifikant zunimmt. Dementsprechend übersteigen in jungen Jahren die Versicherungsbeiträge die durchschnittlichen Pflegeaufwendungen i.d.R. bei Weitem, während der durchschnittliche Beitragszahler mit zunehmendem Alter vermehrt zum Nettoempfänger wird. Jeder Jahrgang sorgt somit für seine eigenen zukünftigen Pflegeausgaben vor, weshalb die Beiträge im Versicherungsverlauf nicht altersbedingt erhöht werden müssen.

In der sozialen Pflegeversicherung hingegen werden die laufenden Pflegeversicherungsleistungen durch die laufenden Beitragseinnahmen finanziert, d.h. die jungen Jahrgänge füllen als durchschnittliche Nettobeitragszahler per Umlage die Finanzierungslücke der alten Jahrgänge. Die Leistungsfähigkeit dieses Generationenvertrags ist konzeptionsbedingt von der demografischen Struktur des Versichertenkollektivs abhängig. Bleibt die demografische Struktur unverändert, können das Beitrags- und das Leistungsniveau im Zeitverlauf konstant gehalten werden. Aufgrund der steigenden Lebenserwartung (die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes [einer Frau] hat sich in Deutschland von 1991/1993 bis 2012/2014 von 72,47 [79,01] Jahre auf 78,13 [83,05] Jahre erhöht) und der seit Jahrzehnten niedrigen Geburtenrate (die durchschnittliche Kinderzahl je Frau – zusammengefasste Geburtenziffer – betrug im Jahr 2014 in Deutschland 1,47) schrumpft und altert die Bevölkerung jedoch deutlich, so dass eine sinkende Zahl von Nettobeitragszahlern für immer mehr Pflegebedürftige aufkommen muss. Infolgedessen ist zur Erhaltung des Leistungsniveaus eine sukzessive Erhöhung der Beitragssätze notwendig, die unweigerlich zu einer intergenerativen Umverteilung zuungunsten der jungen und der zukünftigen Generationen führt. Seit 1995 sind die Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung deutlich langsamer als die Beiträge gestiegen, die bekanntlich bruttolohnbezogen sind. Im selben Zeitraum sind die Kosten für Pflegeleistungen stärker gestiegen als die allgemeine Preissteigerungsrate. De facto ist also die Pflegeversicherung deutlich teurer geworden.

Die Lücke zwischen den gesetzlichen Pflegeversicherungsleistungen und den tatsächlichen finanziellen Belastungen im Pflegefall stieg in den letzten Jahren drastisch an. Erst mit dem Inkrafttreten des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes wurde seitens des Gesetzgebers mit einer Begrenzung des Eigenanteils entsprechend reagiert. Das aufgrund der Personalintensität pflegerischer Tätigkeiten geringe Rationalisierungspotenzial sowie der Fachkräftemangel in der Pflege machen einen weiterhin überproportionalen Kostenanstieg im Pflegesektor wahrscheinlich. Zudem werden die Ausgaben für die Pflege der Demenzerkrankten in Zukunft erheblich wachsen. Die geschätzte Krankenzahl in Deutschland wird sich bis 2050 gegenüber dem Jahr 2010 verdoppeln. Trotz der verbesserten Leistungen für demenziell erkrankte Menschen infolge des durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz neu festgesetzten Begutachtungssystems ist der verbleibende private Absicherungsbedarf weiterhin sehr hoch. In Anbetracht der vermehrten Nutzung professioneller Pflege statt der Angehörigenpflege, die aufgrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen immer schwieriger zu realisieren ist, betrifft die durch den Kostendruck im Pflegesektor bedingte Ausweitung der Versorgungslücke einen sehr großen Teil der Pflegebedürftigen. Eine leistungsfähige Absicherung des Pflegerisikos ist jedoch aus individueller Sicht unerlässlich, da die zusätzlich aufzubringenden Beträge für die ambulante und stationäre Pflege das Vermögen der Betroffenen binnen weniger Jahre aufzehren können. Außerdem schützt eine umfassende finanzielle Pflegevorsorge die Angehörigen nicht nur vor dem Verlust des Erbes, sondern auch davor, im Rahmen der Unterhaltspflicht zur Deckung der nach den Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung verbleibenden Pflegekosten herangezogen zu werden. Eine zusätzliche private Pflegeversicherung ist demnach unverzichtbar.

Angesichts der schwierigen finanziellen Zukunft der sozialen Pflegeversicherung und der unzureichenden gesetzlichen Pflegeversicherungsleistungen steht die private Versicherungswirtschaft in der Pflicht, zusätzliche kundenorientierte kapitalgedeckte Produkte zu entwickeln und auf dem Markt anzubieten. Die gesetzliche Pflegeversicherung ist trotz aktueller Reformen weiterhin nur als „Teilkaskoversicherung“ anzusehen und deckt folglich nur einen Teil der anfallenden Pflegekosten.

Gegenwärtig bietet die private Versicherungswirtschaft Produktlösungen innerhalb der privaten Krankenversicherung und der Lebensversicherung an. Private Krankenversicherer offerieren dem Kunden Pflegetagegeld- und Pflegekostenversicherungen. Der Gesetzgeber hat zum 1.1.2013 eine staatliche Förderung für eine private Pflegezusatzversicherung, den sog. „Pflege-Bahr“, eingeführt. Die staatliche Förderung in Form von Zulagen wird nur für Pflegetagegeld-Policen angeboten. Das Ziel war, eine eigenverantwortliche und kapitalgedeckte Vorsorge für Pflegebedürftigkeit zu unterstützen. Auch unter Berücksichtigung der neuen Förderung der Pflegezusatzversicherung werden die Probleme in der Pflegeversorgung allerdings nicht flächendeckend gelöst: die gesetzliche Pflegeversicherung und der „Pflege-Bahr“ bieten auch zusammen lediglich eine Basisabsicherung.

Die Lebensversicherer bieten ihren Kunden Pflegerenten- und Pflegerentenzusatzversicherungen an. Die genannten Produkte orientieren sich hinsichtlich des Leistungsspektrums an den gesetzlichen Pflegestufen bzw. zukünftig an den gesetzlichen Pflegegraden und/oder an einem Punktesystem (ADL-Definition) sowie im Fall der Pflegekostenversicherung an den tatsächlichen Pflegekosten. Bei Vertragsabschluss kann der Umfang der Leistungen im Pflegefall passgenau am Vorsorgebedarf des Kunden ausgerichtet werden. Je nach finanzieller Situation und persönlichem Sicherheitsbedürfnis werden die Leistungsbedingungen, die Höhe der Leistungen sowie die Modalitäten der Beitragszahlung – bspw. besteht bei einer Pflegeversicherung die Möglichkeit, zwischen laufender und einmaliger Beitragszahlung zu wählen bzw. beides zu kombinieren – festgelegt. Des Weiteren kann die Pflegezusatzversicherung durch attraktive Assistanceleistungen, wie bspw. Beratungsangebote oder die organisatorische Unterstützung bei der Pflegeheimsuche, ergänzt werden.

In jedem Fall eröffnet die offensichtliche Notwendigkeit einer zusätzlichen Absicherung des Pflegerisikos der privaten Versicherungswirtschaft bereits gegenwärtig ein immenses Marktpotenzial, dessen Nutzung aus vertrieblicher Sicht eine der bedeutendsten Wachstumschancen der nächsten Jahrzehnte darstellt.

Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung ist die Kapitaldeckung unverzichtbar. Der Bedarf umfassender Vorsorge wurde mit der Implementierung des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes seitens der Politik und des Gesetzgebers zum Teil erkannt. Jedoch werden in den nächsten Jahren weitere Schritte und Maßnahmen vonnöten sein, um den demografischen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen entgegenzutreten.

Literatur: Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. (Hrsg.), Das Wichtigste 1: Die Epidemiologie der Demenz (Schätzungen auf Basis der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausschätzung – Variante 1-W2), Berlin 2012; Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerung Deutschlands bis 2060 – 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Wiesbaden 2015.

Autor(en): Rainer M. Jacobus

 

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