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Risikostrukturausgleich

1. Begriff

Der Begriff „Risikostrukturausgleich“ (RSA) beschreibt grundsätzlich einen finanziellen Ausgleichsmechanismus in sozialen Krankenversicherungssystemen mit Wahlfreiheit zwischen den Krankenversicherungsunternehmen. Allerdings können zwischen den Unternehmen der privaten Krankenversicherung ebenfalls Risikoausgleiche realisiert sein – in Deutschland etwa beim Basistarif oder in der privaten Pflegeversicherung. Auch zwischen den PKV-Unternehmen, die in Obamas Gesundheitsreform (Affordable Care Act) teilnehmen, ist ein RSA installiert.

2. Ziele

In sozialen Krankenversicherungssystemen ist den Krankenversicherern in aller Regel die Kalkulation risikoäquivalenter Beiträge verwehrt; vielmehr müssen sie einkommensabhängige Beiträge oder risikounabhängige Pauschalbeiträge (Schweiz) kalkulieren. Damit entstünden Anreize zur Risikoselektion. Durch einen RSA sollen diese Anreize gemindert werden – die Versicherer sollen idealerweise der Einnahmen für die einzelnen Versicherten so gestellt werden, wie wenn sie risikoäquivalente Beiträge kalkuliert hätten.

3. Risikostrukturausgleich in Deutschland
3.1 Historie und Entwicklungen

In Deutschland bezieht sich der Begriff „Risikostrukturausgleich“ (RSA) auf das Verfahren in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Mit dem Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) v. 21.12.1992 (BGBl. I S. 2266) wurde der RSA beschlossen (§§ 266, 267 SGB V) und ab 1994 praktiziert. Größere Veränderungen ergaben sich aus dem RSA-Reformgesetz v. 10.12.2001 (BGBl. I S. 3465) mit Wirkung ab 2002. Seinerzeit wurde ein Risikopool eingerichtet, aus dem die Krankenkassen für sehr aufwendige Leistungsfälle (größer 20.500 Euro pro Jahr) eine teilweise Erstattung der Aufwendungen erlangen konnten. Auch wurde die Zahl der Ausgleichsvariablen erweitert. Eine größere Neuregelung, die zum 1.1.2009 in Kraft getreten ist, ergab sich mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) v. 26.3.2007 (BGBl. I S. 378). Seitdem ist der RSA mit den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds an die Krankenkassen verknüpft und die Zahl der Ausgleichsvariablen wurde wesentlich erweitert.

3.2 Funktionen und Methoden

In der Zeit von seiner Einführung bis Ende 2008 erfüllte der RSA zwei Funktionen: a) Ausgleich der unterschiedlichen Finanzkraft der Krankenkassen, die durch die unterschiedlich hohen beitragspflichtigen Einnahmen der Versicherten bedingt waren, – b) Ausgleich der unterschiedlichen Beitragsbedarfe, die die ausgabenseitigen Risikomerkmale widerspiegelten. Jede Krankenkasse zahlte entsprechend ihrer Finanzkraft in den RSA ein und erhielt Mittel entsprechend des Beitragsbedarfs aus dem RSA – wobei nur der Saldo zwischen Finanzkraft und Beitragsbedarf abgerechnet wurde. Seit dem 1.1.2009 verfügen die Krankenkassen nicht mehr über die Finanzkraft, da die Beiträge an den Gesundheitsfonds entrichtet werden (§ 252 SGB V). Entsprechend ist ein Finanzkraftausgleich nicht mehr erforderlich. Aus dem Gesundheitsfonds erhalten die Krankenkassen Zuweisungen; die Zuweisungen für die Finanzierung der Leistungsausgaben werden als RSA an die Krankenkassen verteilt (§ 266 SGB V). Risikomerkmale, nach denen die Zuweisungen erfolgen, sind Alter, Geschlecht, Erwerbsminderungsstatus und Morbidität der Versicherten, die für 80 vom Bundesversicherungsamt bestimmte Erkrankungen berücksichtigt wird (morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich; § 268 SGB V). Die Morbidität wird anhand der stationären und ambulanten Behandlungsdiagnosen ermittelt. Für die Berücksichtigung der ambulanten Behandlungsdiagnosen ist teilweise zur Validierung vorgesehen, dass für den jeweiligen Versicherten auch entsprechende Arzneimittel verordnet wurden. Ferner werden Arzneimittel teilweise zur Schweregraddifferenzierung verwendet. Datenbasis für die Ermittlung der Höhe der Zuweisungen ist eine pseudonymisierte Versichertenvollerhebung aller Krankenkassen, die über den GKV-Spitzenverband an das Bundesversicherungsamt (BVA) gemeldet wird. Mittels einer multivariaten Regressionsanalyse werden die mit den Risikomerkmalen im GKV-Bundesdurchschnitt verbundenen inkrementellen Ausgaben der Krankenkassen vom Bundesversicherungsamt (BVA), das den RSA durchführt, ermittelt und zugewiesen. Dabei findet ein prospektives Modell Anwendung, bei dem für die Versicherten inkrementelle Ausgaben des jeweils laufenden Jahres auf Basis der entsprechenden Ausgleichsvariablen des Vorjahres ermittelt werden. Während des laufenden Jahres erhalten die Krankenkassen im Rahmen eines monatlichen Ausgleichs Abschlagszahlungen auf Basis älterer Daten; im Herbst des Folgejahres wird auf Basis der finalen Daten zu den Versicherten und den Leistungsausgaben des Ausgleichsjahres und der Diagnosen des Vorjahres ein Jahresausgleich durchgeführt, bei dem die Differenz zu den Abschlagszahlungen ausgeglichen wird.

3.3 Wissenschaftliche Begleitung

Das GKV-WSG hat vorgesehen, dass beim BVA ein wissenschaftlicher Beirat eingerichtet wird, der die Weiterentwicklung des RSA begleitet. Der Beirat besteht aus Vertretern der Medizin, Statistik, Arzneimittelepidemiologie und Gesundheitsökonomie.

3.4 Diskussionspunkte

Während bei Einführung des RSA grundsätzlich kontrovers war, ob das Instrument eine sinnvolle Flankierung zum mit dem GSG vollzogenen Ausbau der Kassenwahlfreiheit bedeutet, ist seine grundsätzliche Notwendigkeit in der GKV heute unbestritten. Kontroversen bestehen aber über die Sinnhaftigkeit der Morbiditätsorientierung: Die bereits mit der RSA-Reform von 2001 beschlossene, aber erst mit dem GKV-WSG umgesetzte morbiditätsorientierte Weiterentwicklung des RSA (Morbi-RSA) wurde vom Gesetzgeber mit der größeren Zielgenauigkeit gegenüber dem bis dahin praktizierten Ausgleichssystem begründet, das Alter, Geschlecht und Erwerbsminderungsstatus der Versicherten berücksichtigt hatte (vgl. Bundestags-Drucksache 14/6432). Kritisch wird diskutiert, inwieweit das Interesse der Krankenkassen an der Vermeidung des Eintritts oder der Verschlimmerung von Erkrankungen ihrer Versicherten durch die Morbiditätsorientierung geschwächt wird, weil bei schwereren Erkrankungen höhere Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds erfolgen. Allerdings ist für die wirtschaftliche Situation einer Krankenkasse die Differenz zwischen Zuweisungen und Ausgaben für die Krankenbehandlung wesentlich. Bei Einführung der Morbiditätsorientierung haben verschiedene Krankenkassen gesonderte Anstrengungen unternommen, Ärzte zur möglichst vollständigen Kodierung der Diagnosen bei ihren Patienten zu bewegen. Dies hat Befürchtungen eines allgemeinen Höher-Kodierens (Up-Coding), wie es auch bei Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen (Diagnoses Related Groups, DRG) beobachtet wurde, genährt. Auf Basis der Daten des Jahresausgleichs 2009 hat der vom BMG berufene Wissenschaftliche Beirat zur Weiterentwicklung des RSA in 2011 den Morbi-RSA untersucht. Danach vermag er deutlich zielsicherer die unterschiedliche zu erwartende Ausgabenlast zwischen Kranken und Gesunden in den Zuweisungen an die Krankenkassen widerzuspiegeln.

3.5. Verfassungsrechtliche Würdigung

Nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Verfassungsbeschwerden mehrerer Betriebskrankenkassen gegen den RSA 2004 mangels der Grundrechtsfähigkeit von Krankenkassen nicht zur Entscheidung angenommen hat (Urteil vom 9.6.2004; 2 BvR 1248/03), hat es in einem von den Ländern Bayern, Baden-Württemberg und Hessen angestrengten Normenkontrollverfahren 2005 den RSA umfassend gewürdigt (Urteil vom 18.7.2005; 2 BvF 2/01). Dabei hat es sowohl die grundsätzliche Verfassungskonformität des kassenübergreifenden RSA festgestellt als auch die durch die RSA-Reform von 2001 beschlossene morbiditätsorientierte Weiterentwicklung gebilligt. In dem aus zahlreichen Einzelkassen bestehenden GKV-System trage der RSA zur Realisierung einer GKV-weiten Tragung der Solidarlasten bei.

Literatur: Drösler, S./Hasford, J./Kurth, B.M./Schaefer, M./Wasem, J./Wille, E.: Evaluationsbericht zum Jahresausgleich 2009 im Risikostrukturausgleich, Bonn 2011; Göpffarth, D./Greß, S./Jacobs, K./Wasem, J. (Hrsg.), Jahrbuch Risikostrukturausgleich 2008 – Morbi-RSA, St. Augustin 2009; Jacobs, K./Reschke, P./Cassel, D./Wasem, J., Zur Wirkung des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung – Eine Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit, Baden-Baden 2002; Klusen, N./Straub, C./Meusch, A. (Hrsg.), Steuerungswirkungen des Risikostrukturausgleichs, Baden-Baden 2005; Lauterbach, K./Wille, E., Modell eines fairen Kassenwettbewerbs. Sofortprogramm „Wechslerkomponente und solidarische Rückversicherung“ unter Berücksichtigung der Morbidität. Abschlussbericht, Köln u. Mannheim 2001, in: http://www.bmgesundheit.de; Schneider, W., Der Risikostrukturausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung, Berlin 1994.

Autor(en): Prof. Dr. Jürgen Wasem

 

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