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Run-off-Management

1. Begriff

Run-off-Management bezeichnet die betriebswirtschaftliche Ausgestaltung der Abwicklung von Altbeständen, d.h. von nicht mehr fortgeführtem Geschäft (Discontinued Business). Die Haftung aus einem Versicherungs- oder Rückversicherungsvertrag endet nicht automatisch mit dem Ende der Vertragslaufzeit. Je nach Vertragsgestaltung kann sich die Abwicklung von Altbeständen bis zum Wegfall aller Haftungen (Finalität) über Jahrzehnte hinziehen. Das gilt insbesondere für die Haftpflichtversicherung und andere Sparten des sog. Longtail-Geschäfts.

Die besondere Bedeutung des Run-off-Managements ergibt sich nicht zuletzt aus dem erheblichen Volumen an Run-off-Reserven in den Büchern der europäischen Versicherer und Rückversicherer. Hierzu gibt es unterschiedliche Studien mit teilweise leicht abweichenden Ergebnissen. In Deutschland, Österreich und der Schweiz dürften etwa 100 Mrd. Euro an Run-off-Reserven vorhanden sein. Hinzu kommen weitere 23,7 Mrd. GBP im englischen Markt.

Beim passiven Run-off-Management werden die Altbestände mehr oder weniger sich selbst überlassen. Nur die aktuell anfallenden Geschäftsvorgänge, wie z.B. Reservebuchungen oder Depotanpassungen, werden im laufenden Geschäftsbetrieb erledigt. Das aktive Run-off-Management setzt dagegen eine konkrete Strategie für den Umgang mit dem Altbestand voraus, aus der sich zielgerichtete Maßnahmen für den Abbau der Haftungen und die Verwendung der durch Schadenreservierungen, einschl. von IBNR-Reserven, gebundenen Vermögenswerte ableiten lassen. Das Run-off-Management muss aber auch sicherstellen, dass ausreichend Liquidität zur Durchführung von Ablösungen (s.u.) vorhanden ist. Als externe Akteure mit Einfluss auf das Run-off-Management sind schließlich u.a. Aufsichtsbehörden, Wirtschaftsprüfer und Ratingagenturen zu nennen. Besondere Bedeutung gewinnt das Run-off-Management für solche Gesellschaften, die die Zeichnung von Neugeschäft komplett eingestellt haben. Ohne Prämieneinnahmen sind sie zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs auf die Gewinne aus Kapitalanlagen, Ablösungen und erfolgreiches Schadenmanagement angewiesen.

2. Ablösungen

Die Ablösung (Commutation) ist das wichtigste Instrument des aktiven Run-off-Managements, denn sie dient gezielt dem Abbau von Verpflichtungen. Eine Ablösung ist ein Vertrag zwischen einem Rückversicherer und seinem Zedenten, bei der ein Erstversicherer gegen einen entsprechenden Ausgleich auf alle Rechte aus einem Rückversicherungsvertrag verzichtet und der Rückversicherer umgekehrt von allen Verpflichtungen entbunden wird. Es kann sich auch um einen Vertrag zwischen einem Erstversicherer und seinem Versicherungsnehmer handeln; im Folgenden wird von dem Verhältnis zwischen Rückversicherer und Zedent ausgegangen. Die Grundsätze lassen sich ohne Weiteres auf das Verhältnis zwischen Erstversicherer und Versicherungsnehmer übertragen. Die Vorteile einer solchen Vereinbarung liegen auf der Hand: Die ungewisse Schadenentwicklung in der Zukunft wird durch einen konkreten, von beiden Seiten akzeptierten Schadenwert ersetzt. Der Zedent erhält sofort liquide Mittel, die er am Kapitalmarkt einsetzen kann. Außerdem kann er von einer eventuellen Besserabwicklung der Schäden in der Zukunft profitieren. Der Rückversicherer muss keine Verschlechterung in der Abwicklung mehr befürchten; für beide verringert sich der administrative Aufwand. Auch unter dem Gesichtspunkt von Solvency II kann eine Ablösung für die Parteien von Vorteil sein. Für den Rückversicherer ergibt sich das unmittelbar aus der Reduzierung der Schadenreserve. Der Zedent hat möglicherweise einen Vorteil, weil er das Ausfallrisiko seiner Rückdeckung reduziert. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass das Spätschadenrisiko auf den Zedenten übergeht, wenn die Bewertung der Schadenreserven fehlerhaft war.

Ziel der Ablösungsvereinbarung ist die vollständige oder teilweise Beendigung der gegenseitigen Rechte und Pflichten aus dem Rückversicherungsvertrag. Im Vorfeld einer Ablösung nehmen die Aktuare beider Parteien eine Einschätzung der abzulösenden Schadenreserven vor. Ziel dieser Bewertung ist es, einen „Preis“ für den Risikotransfer vom Rück- zum Erstversicherer zu bestimmen. Idealerweise entspricht dieser Preis den Schadenreserven, die der Erstversicherer benötigt, um allen Verpflichtungen bis zur kompletten Abwicklung sämtlicher Schäden nachzukommen. In den meisten Fällen kommen die Aktuare beider Seiten zu unterschiedlichen Bewertungen der erforderlichen Schadenreserve, insbesondere hinsichtlich der Bewertung von IBNR-Reserven. Die transparente Kommunikation der für die Bewertung getroffenen Annahmen und der zugrunde liegenden Schadeninformationen hilft i.d.R., die Diskrepanz gering zu halten, so dass eine Einigung auf einen bestimmten Schadenreservebedarf ermöglicht wird.

Auf der Basis eines zu verhandelnden Diskontierungssatzes wird der Barwert des zuvor festgelegten Schadenreservebedarfs ermittelt. Der Zedent wird wegen der Diskontierung im Zeitpunkt der Ablösung einen Bilanzverlust erleiden, dem ein entsprechender Bilanzgewinn des Rückversicherers gegenübersteht. Dies ist aber nur eine Momentaufnahme, denn dieser Effekt wird über die Zeit dadurch ausgeglichen, dass die Kapitalanlageerträge nach der Zahlung des Ablösebetrags nicht mehr beim Rückversicherer, sondern beim Zedenten erwirtschaftet werden.

Der Ablösungsvertrag (Commutation Wording) unterliegt den allgemeinen vertragsrechtlichen Regelungen. Es empfiehlt sich, eine Ablösung stets schriftlich zu vereinbaren, auch wenn das Gesetz kein Formerfordernis vorsieht. Der Vertragstext muss auf jeden Fall die beteiligten Parteien und das abzulösende Geschäft genau bezeichnen. Ferner müssen der Ablösebetrag, die Rechtsfolgen der Ablösung und ein Stichtag enthalten sein. Bei ausländischen Vertragspartnern ist es zudem erforderlich, den Gerichtsstand und das anwendbare Recht zu definieren. Viele Ablösungsverträge enthalten eine Schiedsklausel, die sich an den Regelungen des abzulösenden Geschäfts orientiert.

3. Solvent Scheme of Arrangement

Ein relativ neues Instrument im Rahmen des Run-off-Managements ist das „Solvent Scheme of Arrangement“ (Scheme), nach englischem Recht auch als „Vergleichsplanverfahren“ oder „solventer Zwangsvergleich“ bezeichnet. Dieses Rechtsinstitut nach Part 26, Section 895 des Companies Act 2006 richtet sich nicht explizit an die Versicherungswirtschaft, sondern stellt einen allgemeinen Rahmen für gesellschaftsrechtliche Restrukturierungsmaßnahmen auf. Versicherer und Rückversicherer können ein Scheme für die Beendigung der übernommenen Risiken einsetzen, soweit die Risiken eine hinreichende Beziehung mit dem englischen Recht aufweisen. Bis Ende 2011 wurden in den Ländern des Commonwealth mehr als 250 solcher Schemes genehmigt, die ein Haftungsvolumen von über 100 Mio. Euro betrafen. Auch deutsche Versicherungsgesellschaften können als Gläubiger von einem Scheme betroffen sein und u.U. sogar selbst ein Solvent Scheme durchführen.

Die Durchführung eines Scheme gliedert sich in mehrere Phasen. Nach einer gründlichen Vorbereitung und der Information der betroffenen Gläubiger durch die Scheme-Gesellschaft wird in einer ersten Anhörung, dem „Leave to Convene Hearing“, durch ein Gericht geprüft, ob alle Voraussetzungen zur Einberufung der Gläubigerversammlung erfüllt sind. Im Rahmen der Versammlung stimmen die Gläubiger über das Scheme ab. Das Scheme gilt als angenommen, wenn mindestens die Hälfte der an der Abstimmung teilnehmenden Gläubiger dem Vorschlag zustimmt. Zudem müssen sie 75 % des betroffenen Forderungsvolumens (hier: Schadenreserven einschl. von IBNR-Reserven, sonstige offene Forderungen) repräsentieren. Eine Bestätigung des Votums aus der Gläubigerversammlung erfolgt wieder durch ein Gericht im Rahmen des „Sanction Hearing“.

Die Wirksamkeit eines Scheme erstreckt sich auf alle betroffenen Gläubiger, also auch auf diejenigen, die gegen den Vorschlag gestimmt haben, oder auch auf solche, die gar nicht erst an der Abstimmung teilgenommen haben. Alle Gläubiger sind aufgerufen, ihre Forderungen innerhalb einer bestimmten Frist einzureichen. Hierbei handelt es sich um eine Ausschlussfrist, deren Versäumnis den Verlust der Forderung zur Folge hat. Die Scheme-Gesellschaft wird die Forderungen prüfen. Anerkannte Forderungen werden beglichen. Für streitige Forderungen wird das Votum eines unabhängigen Dritten eingeholt.

Das Instrument des Scheme of Arrangement bietet für die durchführende Gesellschaft die Möglichkeit, innerhalb eines begrenzten Zeitraums die Geschäftsbeziehung mit einer großen Anzahl von Gläubigern (Versicherungsnehmern oder Zedenten) zu beenden und damit den Effekt einer Massenablösung zu erzielen. Neben den damit verbundenen Vorteilen (s.o.) ergibt sich insbesondere für die Gläubiger, die dem Plan ablehnend gegenüberstehen, der Nachteil, dass sie durch ein positives Votum der Mehrheit ebenfalls verpflichtet werden können. Zudem besteht die Gefahr, den Stichtag für die Einreichung der Schäden zu verpassen und damit alle Ansprüche zu verlieren.

Unter anderem deshalb wird darüber gestritten, ob die Rechtsfolgen eines englischen Scheme of Arrangement auch in Deutschland eintreten können. Für das Scheme eines Erstversicherers hat der BGH dies inzwischen verneint, weil die Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO) in diesem Fall einen Gerichtsstand am Sitz des Versicherungsnehmers vorsieht. Dies sei bei einer Genehmigung des Scheme durch ein englisches Gericht nicht gegeben. Für den Fall eines Rückversicherungs-Schemes ist diese Frage indes gerichtlich noch nicht entschieden. Die überwiegende Ansicht in der Literatur geht hier von einer Anerkennungsfähigkeit aus.

4. Bestandsübertragungen

Neben Commutations und Schemes sind auch Bestandsübertragungen ein probates Instrument für einen Erst- oder Rückversicher, um sich zu enthaften und im Hinblick auf einen Teil- oder Gesamtbestand von in Abwicklung befindlichen (Rück‑)Versicherungsverträgen Finalität zu erreichen (vgl. §§ 13, 63, 73, 166 und 200 VAG).

5. Schadenbearbeitung

Die Bearbeitung von Schäden aus Discontinued Business folgt grundsätzlich den gleichen Regeln und Abläufen, wie das im Rahmen des aktiven Geschäfts erforderliche Schadenmanagement. Einige Besonderheiten ergeben sich bei einem Rückversicherer, der die Zeichnung von Neugeschäft komplett eingestellt hat. Einerseits wird sich die Bereitschaft zu Kulanz und großzügiger Regulierung von Schäden in Grenzen halten, weil auf zukünftige Geschäftsbeziehungen keine Rücksicht mehr genommen werden muss. Andererseits wird die Run-off-Gesellschaft, deren oberste Priorität die Erreichung von Finalität ist, ein Interesse daran haben, berechtigte Schadenforderungen möglichst rasch zu begleichen, um so das Reservevolumen abzubauen.

Literatur: Baltzer, C., Run-off-Anbieter rüsten sich für Solvency II, in: VW, 68. Jg., H. 12, 2013, S. 22–24; Freudenstein, T., Commutation Strategies, Jumping into run-off, Köln 2005; Freudenstein, T., Case Study: GLOBAL Reinsurance Companies‚ Solvent Scheme of Arrangement, Managing Run-Off in Europe, Köln 2007; Hauberichs, S./Hayre, A., Bei der Abwicklung auf der Hut sein, in: VW, 61. Jg., H. 17, 2006, S. 1381–1386; Endres, K./Villeroy de Galhau, S., Abwicklung von Beständen ist unter Solvency II ein kostspieliges Geschäft, in: VW, 65. Jg., H. 5, 2010, S. 323–325; Schröder, J./Fischer, A., Anmerkung zu BGH IV ZR 194/09, in: BB, 67. Jg., H. 25, S. 1561; Sieg, O./Blum, S., Solvent Schemes – Enforceability in Germany, Managing Run-Off in Europe, Köln 2007; Tyrell, V./Heitlinger, P./Stern, N., Solvent Schemes auch in Deutschland vollstreckbar, in: VW, 62. Jg., H. 20, 2007, S. 1695–1698; Vahsen, L./Erdmann, K. U., Kommutationen: Was tun bei der Rückabwicklung?, in: VW, 60. Jg., H. 17, 2005, S. 1280–1282; KPMG (Hrsg.), The KPMG UK Run-off Survey: Non-life Insurance, 2012; PWC (Hrsg.), Unlocking Value in Run-Off, A Survey of Discontinued Insurance Business in Europe, Sixth Edition, 2013; Gesetz über die Beaufsichtigung der Versicherungsunternehmen (Versicherungsaufsichtsgesetz, VAG) in der seit dem 01.01.2016 geltenden Fassung.

Autor(en): Volker D. Weisbrodt

 

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