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Takaful

arab. „gegenseitige Garantie“.

1. Begriff: Islamische Form der Versicherung, die auf den Grundsätzen des islamischen Rechts (Shari’a) und auf den von islamischen Rechtsgelehrten geforderten Prinzipien der Solidarität und gemeinschaftlichen Risikotragung (vgl. Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, kurz: VVaG) beruht. Die Grundsätze des islamischen Rechts, geregelt in den Standards der Prüfungs- und Rechnungslegungsorganisation für islamische Finanzinstitute (Accounting and Auditing Organisation for Islamic Financial Institutions, kurz: AAOIFI), sind: (1) das Zinsverbot, (2) das Spekulationsverbot, (3) das Verbot von Gharar („exzessiver“ Unsicherheit über den Vertragsgegenstand/Schaden, relevant etwa in der Betriebsunterbrechungsversicherung) und (4) allgemeine islamische Verbote (Schweinefleisch, Alkohol, Rüstungsindustrie). Konstituierend für Takaful ist auch die Einrichtung eines aus islamischen Rechtsgelehrten (Shari'a scholars, Ulama) bestehenden Komitees, des sog. Shari'a-boards, in jedem Takaful-Unternehmen, das die Einhaltung der o.a. Shari’a-rechtlichen (formaljuristischen wie ethisch-religiösen) Anforderungen bez. der Produkte, Investments sowie Prozesse überwacht und zertifiziert. Takaful entstand nach 1979 zuerst im Sudan (wo der Begriff bislang nur die Lebensversicherung bezeichnet, während die Sachversicherung „islamische Versicherung“ – t’amin Islami – heisst), wurde dann in Malaysia und seit ca. 2005 in den Golfstaaten eingeführt. Auch in der Türkei und in Ägypten ist Takaful vertreten.

2. Funktionsweise: Die versicherten Personen willigen mit ihrem Versicherungsvertrag ein, dass ihre Prämie ähnlich einer – allerdings bedingten – Spende (tabarru’ bi-shart) dem Versichertenkollektiv, dem sog. Policyholders-Fund, zugute kommt, so dass im Fall von Schädigungen eines Kollektivmitglieds finanzielle Unterstützung aus den eingezahlten Prämien gewährt wird. Wird diese Prämie im Kollektiv bzw. im Policyholders-Fund nicht mehr benötigt, muss der entsprechende Anteil über die Ausschüttung der Gewinne an die Kollektivmitglieder zurückgegeben werden. Bei der Gewinnrückführung gibt es je nach Takaful-Gesellschaft unterschiedliche Verfahren sowohl nach der Art als auch nach der Höhe der Beteiligung an den auszuschüttenden Gewinnen. Im Fall von Defiziten im Policyholders-Fund (realiter der weit häufigere Fall) müssen die islamischen Versicherungsgesellschaften („Takaful-Operators“) zinslose Kredite (Qard) einschießen, deren Rückzahlung nicht einklagbar ist (entsprechen damit wirtschaftlich einem Verlustvortrag). Alle Geldströme sind hierbei streng getrennt von konventionellem Versicherungsgeschäft zu halten und dürfen nur islamisch investiert werden (d.h. zinsfrei in Aktien und Beteiligungen, aber nicht z.B. in Brauereien, Schweinefleischproduzenten, konventionelle Banken und Versicherungsunternehmen, in Waffen etc.; vgl. Islamisches Bankwesen).

3. Takafulmodelle: Generell wird zwischen zwei grundsätzlichen Takaful-Modellen oder -Prinzipien unterschieden: a) Wakala-Modell: dabei zahlt die Versichertengemeinschaft dem Takaful-Operator (s.u.) eine Gebühr für dessen Verwaltungsleistungen als Prozentsatz der Prämie.
b) Mudharaba-Modell: Dabei wird der Takaful-Operator durch einen Anteil an den erwirtschafteten Überschüssen entlohnt. Bei beiden Modellen erhält der Takaful-Operator auch einen Anteil an den Kapitalanlageerträgen. Den durch die Pflicht zum Einschuss der zinslosen Kredite praktisch (je nach Branche mehr oder minder stark) entstehenden Risikotransfer und Liquiditätsbedarf versuchen auch die auf Wakala-Basis arbeitenden Gesellschaften durch zusätzliche Vereinnahmung von ergebnisabhängigen Beitragsteilen auszugleichen, was i.Allg. zu einer faktischen Angleichung an die Risikomodelle der konventionellen Versicherung geführt hat.

4. Institutionelle Ausgestaltung und praktische Verfahrensweisen: Takaful-Operators existieren meistens in der Rechtsform der Aktiengesellschaft oder Limited (in Begriffen des positiven Rechts) und agieren als reine Verwalter, nicht als Eigentümer des Policyholders-Funds, womit Takaful-Funds als Hybride von Gegenseitigkeitsvereinen und Kapitalgesellschaften betrachtet werden können. Im Prinzip wird zwischen dem sog. Shareholders-Fund (Eigenkapital) und dem Policyholders- oder Participants-Fund (Kollektivkapital) strikt getrennt. In der Verpflichtung, Defizite im Policyholders-Fund durch Qard aus dem Shareholders-Fund auszugleichen, wird diese Trennung allerdings im Cash Flow und Risikotransfer wieder durchbrochen. Die Trennung der beiden Funds macht es im Grunde einfach, Takaful-Funds von konventionellen Versicherern verwalten zu lassen (sog. „window operations“) und so Synergien durch Nutzung des vorhandenen Personals, der Vertriebswege etc. zu heben. Dies wird von vielen Rechtsgelehrten und (begreiflicherweise) von den reinen Takaful-Operators aber als Verwässerung des Prinzips gesehen. Aufsichtsbehörden entschieden in letzter Zeit meist gegen windows (Malaysia, die Golfstaaten, Tunesien, Ausnahme: Pakistan, das windows erst 2011 erlaubte). Dies und das weitgehend dem konventionellen Markt entsprechende Produktangebot hat den Takaful-Operators zuweilen den Ruf eingetragen, nur äußerlich von Versicherung verschieden zu sein (sog. „window-dressing“). Allerdings ist die Takaful-Geschichte zu kurz, um diese Tendenz abschließend zu beurteilen.

5. Marktbedeutung: 2014 gab es ca. 200 Takaful-Unternehmungen, auf die ca. 1 ‰ der weltweiten Versicherungsbeiträge entfielen. In den meisten islamischen Ländern, in denen Takaful existiert, liegt der Anteil am Gesamtversicherungsmarkt im einstelligen Prozentbereich. Nach einer starken Gründungswelle von 2004 bis 2008 v.a. in Malaysia, Pakistan und den Golfstaaten hat sich die Marktentwicklung wieder verlangsamt bzw. hin zur Gründung von „window operations“ entwickelt.

Autor(en): Dr. rer. pol. Ludger Arnoldussen, Dr. oec. publ. Laila Neuthor

 

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