DAV-Erkenntnis: Psyche häufigste BU-Ursache bei Frauen

740px 535px

Die Deutsche Aktuarvereinigung (DAV) hat neue biometrische Rechnungsgrundlagen für die Berufsunfähigkeits-Versicherung (BU) erarbeitet. Der Grund: neue weltweite Entwicklungen wie Brexit, Corona, Klimaschutz, Digitalisierung und Globalisierung haben diese Entscheidung notwendig gemacht. Die vorherigen war in die Jahre gekommen und tragen die Jahreszahl 1997.

Umweltverschmutzung und Klimawandel sowie Stress wirken sich negativ auf die Gesundheit des Menschen aus. Die Folgen können Krebs und psychische Erkrankungen sein. Gerade letztere haben in der jüngsten Vergangenheit zugenommen. Diesem Umstand sollen die neuen DAV-Tafeln Rechnung tragen. Die Aktuare überprüfen zwar in schöner Regelmäßigkeit ihre Rechnungsgrundlagen, die jüngsten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Unsicherheiten haben aber eine Neujustierung der Tafeln dringend notwendig gemacht.

Nahezu jede dritte BU auf Nervenerkrankung zurückzuführen

Die Aktuare haben im Zuge ihrer Aktualisierung herausgefunden, dass nahezu jeder dritte BU-Fall auf eine Nervenerkrankung zurückzuführen ist, genauer gesagt 31,88 Prozent. Seit Jahren dominieren psychische Erkrankungen bei den BU-Fällen, aber mit diesem hohen Prozentsatz haben sie einen neuen Höchststand erreicht. Vor allem Frauen bis 40 Jahre tragen zu dieser erschreckenden Entwicklung bei, denn sie weisen ein höheres Risiko auf, durch psychische Krankheiten berufsunfähig zu werden. Noch vor zehn Jahren waren es nur circa 20 Prozent.

Erkrankungen des Skelett- und Bewegungsapparates (20,33 Prozent) sowie Krebserkrankungen und andere bösartige Geschwülste (17,77 Prozent) sind die zweit- beziehungsweise dritthäufigste Ursache für eine Berufsunfähigkeit. Diese genauen Zahlen liefert eine Analyse von Morgen & Morgen, auf die sich die DAV bezieht.

Wenige Menschen sehen eigene Arbeitskraft als wichtigstes materielles Gut

Zum Hintergrund: Staatlichen BU-Schutz gibt es nur noch für vor dem 2. Januar 1961-Geborene und seit dem 1. Januar 2001 wurde die gesetzliche BU-Rente durch die Erwerbsminderungsrente abgelöst. „Aus diesem Grund ist privater BU-Schutz speziell für Jüngere wichtiger denn je“, zeigte sich der DAV-Vorstand Herbert Schneidemann bei der Online-Konferenz überzeugt. Erstaunlich bis erschreckend sei nur, dass zu wenige Menschen einsehen würden, „dass die eigene Arbeitskraft das wichtigste materielle Gut ist“.

Die Daten für die neuen Tafeln wurden im Zeitraum 2011 bis 2015 gesammelt, sind somit auch schon wieder leicht veraltetes Material, wie auch Nils Dennstedt, Partner Actuarial and Insurance Services bei Deloitte und DAV-Mitglied, zugeben musste. Ganz zu schweigen von den fehlenden Angaben zur aktuellen Corona-Krise. Diese machen wohl eine baldige nochmalige Justierung der Tafeln notwendig.
Die Eckdaten der Untersuchung: Daten von 47 Unternehmen wurden abgefragt, beachtliche 59 Millionen Beobachtungsjahre flossen in die Untersuchung ein und circa 155.000 Neuinvalide wurden berücksichtigt. Die Marktabdeckung der Analyse beträgt 85 Prozent, wobei die DAV noch eine Sonderauswertung der Deutschen Rentenversicherung zur Plausibilisierung herangezogen hat.  

Und welche neuen Erkenntnisse hat die DAV nun aus ihrer Datenanalyse gewonnen?
Die neuen Tafeln spiegeln in erster Linie die veränderte Arbeitswelt wider. Die versicherungstypische Differenzierung nach belastbaren Risikomerkmalen sichert den Risikoausgleich im Kollektiv und damit am Ende die Funktionsweise der Versicherung. Das EU-Verbot, Versicherungsprodukte nach dem Geschlecht zu differenzieren, war nach Ansicht der DAV eine kontraproduktive Entscheidung. „Weitere Verbote von Differenzierungsmerkmalen würde die Versicherbarkeit von individuellen Risiken für breite Bevölkerungsschichten weiter einschränken und verteuert die Produkte nur“, mahnt Dennstedt.

Invalidensterblichkeit ist gesunken

Weiterhin hat die Vereinigung herausgefunden, dass sich bei den Punkten „Invalidisierung“ und „Sterblichkeit“ Verschiebungen ergeben haben. Dazu gehört vor allem die Tatsache, dass die BU-Wahrscheinlichkeit bei Frauen bis 40 Jahren höher als bisher ist, ausgelöst durch psychische Erkrankungen. Dahingegen die Invalidensterblichkeit gesunken ist. Eine Entwicklung, die auch für die Sterblichkeit in der Bevölkerung im Allgemeinen zu beobachten ist.

Warum die Anzahl der psychischen Erkrankungen bei Frauen so stark zugenommen hat, ist noch nicht eindeutig zu erklären, meinen jedenfalls die DAV-Herren. Möglich sei aber, dass die Anzahl der Frauen, die berufstätig und sich noch zeitgleich um die Kindererziehung kümmern müssten, in den vergangenen 25 Jahren gestiegen sei. Möglich sei aber auch, dass das gesellschaftliche Bewusstsein für Nervenerkrankungen stärker geworden sei.  

Steigende psychische Erkrankungen, fallende körperliche Fälle

Weitere Erkenntnis der Analyse: Für Menschen ab 40 Jahren sind die Eintrittswahrscheinlichkeiten der beiden Faktoren „Invalidisierung“ und „Sterblichkeit“ für Männer und Frauen zur DAV-Tafel von 1997 deutlich zurückgegangen. Das heißt im Detail: der Anstieg von psychischen Erkrankungen wird durch den Rückgang anderer Erkrankungen – vor allem des Bewegungsapparates und von Herz-Kreislauf-Erkrankungen – überkompensiert. Zudem haben sich die versicherten Berufe hin zu weniger körperlich tätigen Berufen entwickelt und die körperlichen Anforderungen in vielen Berufen sind grundsätzlich gesunken. Auch ein Mehr an Hilfs- und Assistance-Programmen verhindern eine lebenslange Invalidität und lassen die Menschen wieder ins Berufsleben zurückkehren.

Eine positive Entwicklung zeigt die Recherche auch: 19 Prozent der Menschen nehmen binnen der ersten 24 Monate wieder ihren zuletzt ausgeübten Beruf auf. Vor 20 Jahren waren dies nur elf Prozent. Die Aktuare nennen dies „Reaktivierung“. Das heißt, 75 Prozent der Berufswiedereinstiege erfolgen binnen der ersten drei Jahre nach Eintritt der BU. Ist ein Mensch aber mehr als drei Jahre berufsunfähig, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht mehr ins geregelte Berufsleben zurückkehrt und invalide wird.

Steigende Sicherheitszuschläge für BU-Eintrittswahrscheinlichkeiten? 

Aus den aktualisierten Beobachtungen ergeben sich aber auch geänderte Kostenstrukturen, so dass die Sicherheitszuschläge für die BU-Eintrittswahrscheinlichkeiten im Vergleich zu den bisherigen Tafeln steigen werden. Dies vor allem, weil die psychischen Erkrankungen mit diversen Unwägbarkeiten verbunden sind (Anzahl, Dauer, Schwere) und die Untersuchungen aus einem Zeitraum mit sehr positiver wirtschaftlicher Lage stammen. Stichwort Corona.

Ganz sicher sind sich Dennstedt und seine Aktuarskollegen aber, dass auch heute wie auch seit 1997 gilt: Jeder Vierte wird mindestens einmal im Arbeitsleben berufsunfähig. Nur die Tatsache, dass viele Menschen früher in Rente gehen, verschiebt diese Zahl leicht auf 4,5.

Was die BU-Tafeln leisten sollen

Die DAV BU-Tafeln bestehen aus altersabhängigen Eintrittswahrscheinlichkeiten für eine Berufsunfähigkeit, die Sterblichkeit der Aktiven und Berufsunfähigen und der berufliche Wiedereinstig der Berufsunfähigen. Die BU-Tafeln sind relevant für die Reservierung der Bestände von BU-Policen, nicht für das Pricing. Sie sollen eine wichtige Orientierung für verantwortliche Aktuare in der Lebensversicherungssparte sein, so der Wunsch der DAV-Verantwortlichen. Es gebe natürlich keinen Zwang, diese Tafeln zu verwenden. Zudem müssten die Versicherungsmathematiker erst einmal prüfen, ob die – nun neuen – Tafeln auf ihr eigenes Unternehmen anzuwenden sind.

 

 

Autor(en): Meris Neininger

Alle Branche News