"Persönliche Beratung am Wohnzimmertisch hat noch lange nicht ausgedient"

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Der digitale Wandel hält die Assekuranz in Atem. Welche Chancen digitalisierung für die Versicherer bietet und wie sein Haus sich der Herausforderung stellt, darüber sprach Versicherungsmagazin unter anderem mit Martin Gräfer, Vertriebsvorstand der Bayerischen.

Digitalisierung ist ein Megatrend in der Versicherungsbranche. Welche Gefahren sehen Sie neben den Vorzügen der Digitalisierung?
Martin Gräfer:
Die Digitalisierung ist auch für unsere Branche in erster Linie eine große Chance. Ich bin überzeugt: Richtig umgesetzt profitieren Versicherer und Makler gleichermaßen vom digitalen Wandel. Denken wir nur an die Pandemie: Wo stünde die Versicherungsbranche ohne Digitalisierung heute? Natürlich birgt jeder Umbruch auch Risiken.

Gerade im Vertrieb sollten wir die Bedeutung von jahre- oder jahrzehntelang gewachsenen persönlichen Kundenbeziehungen nicht unterschätzen. Nähe schafft Vertrauen. Die persönliche Beratung am Wohnzimmertisch hat also noch lange nicht ausgedient. Um die Risiken einer schwindenden Kundenbindung zu umschiffen, wird es vor allem auf zwei Erfolgsfaktoren ankommen: Flexibilität und Individualisierung. Vermittler sollten undogmatisch auf die individuellen Beratungspräferenzen ihrer Kunden eingehen und zugleich situativ entscheiden können, welche Beratungsform zu einem gegebenen Anlass am vielversprechendsten für ihn und am angenehmsten für den Kunden ist.

Und auf Versichererseite?
Auf die Versicherer bezogen, befinden sich viele Gesellschaften in der digitalen Aufholjagd. Als historisch gewachsene Branche bedarf es gegenüber jungen, rein digital gegründeten Start-ups und Insurtechs naturgemäß größerer Anstrengungen. Problematisch wird das nur dann, wenn eine "Scheindigitalisierung" veraltete interne Prozesse im Hintergrund lediglich überdeckt. Hier denke ich zum Beispiel an Online-Abschlüsse oder Self-Services, die intern noch von Hand bearbeitet werden - inklusive der entsprechenden Wartezeiten. Kunden werden dafür in Zukunft immer weniger Verständnis aufbringen - und der Wettbewerb begrüßt sie mit offenen Armen.

Wird der Zwang zur Digitalisierung zu einer Konsolidierung im Markt führen?
Natürlich wird der Markt zunehmend rauer. Hinzu kommt: Der Wettbewerb der Zukunft hört vielleicht schon sehr bald auf den Namen Amazon, Alibaba und Co. An eine tiefgreifende Konsolidierung glaube ich dennoch nicht. Denn unsere Branche holt gerade im Eiltempo nach, was sie einige Jahre vielleicht tatsächlich etwas verschlafen hat. Was mich besonders freut: Gerade viele mittelständische Versicherer demonstrieren seit einiger Zeit eindrucksvoll, welche Innovationskraft in ihnen steckt - diese Bereitschaft sich binnen kürzester Zeit neu zu erfinden, hätten viele den Traditionsversicherern so nicht zugetraut.

Wo würden Sie Ihr gesamtes Unternehmen auf einer Entwicklungsschiene zwischen "noch wenig digitalisiert" und "komplett intern und nach außen digitalisiert" einordnen?
Wir sind sicher noch nicht am Ende der Entwicklung - dennoch hat sich die Bayerische in den letzten Jahren in einem wahren Rekordtempo digital aufgestellt. So haben wir mittlerweile einen Großteil der wichtigsten Standard-Geschäftsvorfälle digitalisiert und automatisiert - hier sehen wir uns vor dem Branchendurchschnitt.

Nach außen bietet insbesondere unser digitaler Kundemanager vollständig digitalisierte und automatisierte Self-Services, die von unseren Kunden sehr gut angenommen werden. Mit unserer Gesundheits-App BayFit unterstützen wir unsere Kunden dabei, einen mental und körperlich gesunden und zufriedenen Alltag zu gestalten. Zugleich füllen wir damit unsere Vision mit Leben, das Versichern vielleicht sogar überflüssig zu machen.

Mit der elektronischen Unterschrift inSign hat unser Tochterunternehmen iS2 ein digitales Tool geschaffen, das gerade seit der Pandemie in unserer Branche nicht mehr wegzudenken ist. Kurz gesagt: Mit den Erreichten geben wir uns noch lange nicht zufrieden, dennoch zählen wir uns in Sachen Digitalisierung zu den Vorreitern.

Wie nehmen Sie im Prozess ihre Mitarbeiter und Vertriebspartner mit auf die Reise?
Ohne einen kulturellen Wandel, der alle Mitarbeitenden und Vertriebspartner mitnimmt, ist die digitale Transformation wertlos. Mit unserem Zukunftsprogramm "die Bayerische goes Amazon" haben wir solch einen ganzheitlichen Wandel schon vor einiger Zeit angestoßen. Maßgeblich für uns ist es unsere Mitarbeitenden und Vertriebspartner so zu befähigen, dass sie unter sich rasant ändernden Rahmenbedingungen möglichst selbstständig in der Lage sind, für unsere Kunden stets flexibel die besten Lösungen und Services zu entwickeln - quer durch und über alle Fachbereiche hinweg.

Es wäre ein fatales Signal, wenn Mitarbeitende diesen Wandel als "von oben" übergestülpt empfinden würden. Freude und Motivation sind daher Kernelemente unseres gemeinsamen Weges in die Zukunft. Zum Beispiel haben wir dieses Jahr diverse Fokusgruppen ins Leben gerufen. In diesen arbeiten fachlich gemischt besetzte agile Teams aus Innendienst und Vertrieb an unterschiedlichen, zukunftsrelevanten Zielen. Regelmäßig berichten mir die Teilnehmer, wie viel Spaß das Einbringen gänzlich unterschiedlicher Perspektiven und die gemeinsame Gestaltung neuer Lösungen macht.

Auch in der Beratung selbst beschreiten wir gemeinsam neue Pfade. Mit der digitalen Investmentreise unserer nachhaltigen Tochter Pangaea Life nehmen unsere Vertriebspartner beispielsweise ihre Kunden mit auf eine unvergessliche 360-Grad-Reise quer durch Europa.

Die Digitalisierung der Assekuranz-Unternehmen schreitet mit großen Schritten voran. Eine stärkere Digitalisierung bedeutet aber auch einen höheren Stromverbrauch. Welche Schritte unternimmt die Bayerische, um Energie zu sparen, evtl. auch eigenen Strom zu erzeugen?
Digitalisierung darf unserer Meinung nach nicht auf Kosten des Planeten gehen. Die Bayerische wirtschaftet deshalb bereits seit 2018 klimaneutral. Seit diesem Jahr gehen wir noch einen Schritt weiter und kompensieren zusätzlich die CO2-Emissionen unseres kompletten Exklusivvertriebs - und gehen damit in der Branche abermals voran.

Bislang gleichen wir unsere CO2-Emissionen aus, indem wir klimafreundliche und zugleich soziale Projekte weltweit unterstützen. Im Rahmen unserer ambitionierten Nachhaltigkeitsstrategie planen wir unseren Netto-Ausstoß an CO2 bis zum Jahr 2027 auch aus eigener Kraft auf null zu senken. Zugleich beziehen wir unsere Energie schon seit mehreren Jahren zu 100 Prozent aus Ökostrom. Mit dem Energieverbrauch im Zuge unserer Digitalisierung hinterlassen wir also schon heute keinen schädlichen Fußabdruck mehr. Im Gegenteil: Sie hilft uns maßgeblich bei der Reduktion unseres Papierverbrauchs.

Mit unserer Tochtermarke Pangaea Life sind wir auch selbst nachhaltiger Energieproduzent: Gemeinsam mit unseren Kunden versorgen wir über unsere Windkraft-, Solar- und Wasserkraft-Anlagen des Pangaea Life Fonds jährlich zehntausende Haushalte mit klimafreundlichem Strom. Übrigens: Bereits ab 25 Euro im Monat kann jeder Kunde mit seiner Pangaea Life Zukunftsvorsorge Teil der nachhaltigen Energiewende werden.

Haben Sie ein Konzept um behinderte Menschen (etwa sehbehinderte), Personen mit geringen Deutschkenntnissen oder technisch wenig affine Menschen zu erreichen?
Mit der "Bayerischen Akademie" haben wir kürzlich unser eigenes Fortbildungszentrum ins Leben gerufen. Dort können sich Mitarbeitende kostenlos zu vielfältigen beruflichen, wie persönlichen Themen weiterbilden und weiterentwickeln. Die Vermittlung digitaler Skills ist ein zentraler Bestandteil unseres Bildungsangebots. Die Zugangshürden halten wir für alle Kolleginnen und Kollegen so niedrig wie möglich. Somit können an den Kursen auch Mitarbeitende mit Behinderung problemlos teilnehmen. Die Referenten sind zudem didaktisch so geschult, auf die speziellen Bedürfnisse von Personen mit geringeren Deutschkenntnissen einzugehen. 

Über welche neuen digitalen Produkte wird derzeit in Ihrem Haus nachgedacht?
Wir haben diverse Projekte in der Pipeline: Zu den spannendsten Produkten zählt sicherlich unsere PrimeHome-Police - so etwas wie der ADAC für die eigenen vier Wände. Mit dem Produkt bilden wir ein Ökosystem, das Schutz, Prävention und Wohlbefinden im Eigenheim mit nur einer Police abdeckt. Hier denken wir für die Zielgruppe der Einfamilienhausbesitzer über weitere digitale Features rund um das Smart Home nach. Aktuell gibt es beispielsweise Überlegungen ein Tool zur Prävention von Wasserschäden anzubieten. Darüber hinaus entwickelten wir kürzlich einen Alexa-Skill, mit dem Kunden per Sprachbefehl die jährliche Verlängerung ihrer E-Scooter-Versicherung erledigen können.

Gemeinsam mit unserem Kooperationspartner Barmenia gehen wir aktuell mit der Aktion "Einfach B" an den Start, die diverse Online-Abschlussstrecken vereint. Bei unserer neuen Hausratversicherung erfahren Kunden digital, welche Varianten und Kombinationsmöglichkeiten für ihre Lebenssituation am meisten Sinn machen. Und auch im Bereich der Tierversicherung wollen wir neue digitale Services anbieten. Hier denken wir an eine App, mit der unsere Kunden ihr Haustier per Smartphone tracken können. Hunde- und Katzenbesitzer wissen, welche Erleichterung das bringen kann.

Autor(en): Alexa Michopoulos

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