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Erlebenswahrscheinlichkeit

1. Begriff: Wahrscheinlichkeit, mit der eine bestimmte Person einen vorgegebenen Zeitraum überlebt.

2. Merkmale: Erlebenswahrscheinlichkeiten sind in der Personenversicherung und in der Altersversorgung wichtige Kalkulationsparameter. Die Wahrscheinlichkeit px eines x-Jährigen, einen Zeitraum von einem Jahr zu überleben, steht mit der einjährigen Sterbewahrscheinlichkeit qx in dem Zusammenhang qx + px = 1. Für einen mehrjährigen Zeitraum von t Jahren hat dann ein x-Jähriger die Erlebenswahrscheinlichkeit:

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3. Modell: Siehe Sterbewahrscheinlichkeit. Erlebenswahrscheinlichkeiten werden immer durch einfache Weiterverarbeitung aus Sterbewahrscheinlichkeiten abgeleitet. Insofern gibt es kein eigenständiges Modell für die Bestimmung von Erlebenswahrscheinlichkeiten. Die im Modell für Erlebensfallversicherungen verwendeten Sicherheitsmargen bestehen allerdings i.d.R. aus Abschlägen auf die beobachteten Sterbehäufigkeiten, während bei Todesfallversicherungen (Risikolebensversicherung) mit Zuschlägen gearbeitet wird.

4. Ziele: Die Ermittlung von Erlebenswahrscheinlichkeiten ist im Versicherungsgeschäft eine Voraussetzung für die Kalkulation erwarteter finanzieller Belastungen aus Zahlungen, die an die Voraussetzung geknüpft sind, dass der Versicherte bestimmte Zeitpunkte erlebt, wie es bspw. bei privaten Rentenversicherungen der Fall ist. Auch der Wert der künftigen Beiträge hängt entscheidend von den Wahrscheinlichkeiten ab, mit denen der Versicherte die künftigen Fälligkeitszeitpunkte erlebt.

5. Probleme: Bei der Kalkulation von Versicherungstarifen zur Absicherung des Todesfallrisikos werden Sterbewahrscheinlichkeiten 1. Ordnung verwendet, die gegenüber den bestmöglichen Schätzwerten um einen Sicherheitsaufschlag erhöht sind. Damit werden die Barwerte künftiger Leistungen überschätzt, die Barwerte künftiger Beiträge dagegen unterschätzt, so dass das Versicherungsunternehmen eine positive Erfolgserwartung hat. Bei Versicherungen, bei denen die Leistungspflicht an das Erleben künftiger Zeitpunkte geknüpft ist, würde dementsprechend die Anwendung der für Todesfallabsicherungen konzipierten Sterbetafeln umgekehrt dazu führen, dass der künftige Leistungsumfang des Versicherers unterschätzt wird. Dementsprechend wird für die Kalkulation und Reservierung von Rentenversicherungstarifen mit Sicherheitsabschlägen von den bestmöglichen Schätzwerten der Sterbewahrscheinlichkeiten gearbeitet. Von einer Versicherung mit Todesfallcharakter wird gesprochen, wenn der Barwert der künftigen Versicherungsleistung mit wachsenden qx zunimmt. Umgekehrt hat eine Versicherung Erlebensfallcharakter, wenn der Leistungsbarwert mit wachsenden qx abnimmt. Je nachdem, ob eine Versicherung Todes- oder Erlebensfallcharakter hat, werden für die Kalkulation und Reservierung Sterbewahrscheinlichkeiten 1. Ordnung angewandt, die Sicherheitszuschläge bzw. Sicherheitsabschläge auf die beobachteten Sterbehäufigkeiten enthalten. Eine besondere Schwierigkeit stellt die Kalkulation von Versicherungsprodukten dar, die abhängig von individuellen Parametern der versicherten Personen oder während der Laufzeit ihren Charakter ändern. Dies ist z.B. bei Altersrentenversicherungen mit eingeschlossenem Hinterbliebenenschutz häufig dann der Fall, wenn die versicherte Person männlich und in fortgeschrittenem Alter, die mitversicherte Ehefrau sehr viel jünger und mehrere waisenrentenberechtigte Kinder vorhanden sind. Hintergrund und Beispiel: Eine Versicherung hat Erlebensfallcharakter, wenn im Todesfall der versicherten Person die Deckungsrückstellung als Ausdruck der Gesamtverpflichtung des Unternehmens sinkt. Dies ist bei starkem Gewicht von Hinterbliebenenleistungen allerdings nicht immer der Fall. Als Beispiel sei ein 35-jähriger Versicherter mit einer zehn Jahre jüngeren Ehefrau und drei kleinen Kindern angeführt, der eine aufgeschobene Rentenversicherung auf das Renteneintrittsalter 65 mit Hinterbliebenenschutz abgeschlossen hat: Beim Tod des Versicherten im Alter von 35 Jahren entfällt eine noch 30 Jahre aufgeschobene Altersrente von im Mittel – angenommen – 20-jähriger Laufzeit, an ihre Stelle tritt jedoch eine sofort ausgelöste Witwenrente von 60 % der Altersrente, die voraussichtlich ca. 65 Jahre lang zu zahlen ist und die für die ersten zehn bis 20 Jahre zudem noch um Waisenrenten aufzustocken ist. Es ist plausibel, dass hier mit Eintritt des Todesfalls die Leistungsverpflichtung des Lebensversicherers per Saldo ansteigt, die Versicherung also eher Todesfallcharakter hat. Beim Tod des Versicherten im Alter von 70 Jahren bleibt dagegen die Verpflichtung, die reduzierte Witwenrente bis zum voraussichtlichen Ableben der dann 60-jährigen Ehefrau noch weitere 30 Jahre zu zahlen, aber der Mehrbetrag der Altersrente, der erwartungsgemäß noch für ca. 20 Jahre zu zahlen gewesen wäre, entfällt. Insgesamt sinkt der erwartete Leistungsumfang des Lebensversicherers mit dem Tod des Versicherten, der Vertrag hat jetzt Erlebensfallcharakter.

6. Verwandte Begriffe: Sterbewahrscheinlichkeit, Langlebigkeit.

 

Autor(en): Norbert Heinen

 

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