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Vertretungsmacht des Versicherungsvertreters

1. Begriff: Umfang des Vertretungsrechts des Versicherungsvertreters für das Versicherungsunternehmen. Zu unterscheiden sind diesbezüglich der Vermittlungsvertreter und der Abschlussvertreter.

2. Rechtsentwicklungen: Die frühere gesetzliche Regelung (§§ 43, 44 VVG a.F.) wurde in der Praxis mehr und mehr als unzureichend und als den Versicherungsnehmer benachteiligend beurteilt. Der Vermittlungsvertreter war im Antragsstadium (§ 43 Nr. 1 VVG a.F.) zwar bevollmächtigt, Versicherungsanträge des Versicherungsnehmers entgegenzunehmen, nicht aber Angaben des Versicherungsnehmers zu gefahrerheblichen Umständen zur Erfüllung seiner vorvertraglichen Anzeigepflicht (Wissenserklärungen). Unter maßgeblicher Vorreiterrolle des BGH entwickelte sich die sog. Auge-und-Ohr-Rechtsprechung: „Was der Vermittlungsvertreter hört oder sieht in dienstlicher Eigenschaft, wird dem Versicherungsunternehmen zugerechnet, ist Wissen des Versicherungsunternehmens.“ Die Aufnahme des Versicherungsantrags sei ein einheitlicher Lebensvorgang, wobei nicht zwischen der (Empfangs-)Vollmacht des Vermittlungsvertreters zur Entgegennahme (rechtsgeschäftlicher) Willenserklärungen (Versicherungsantrag) und mündlicher Wissenserklärungen zu tatsächlichen Risikoumständen unterschieden werden könne. Begleitet wurde diese Erweiterung der Wissenszurechnung durch Beweislastregeln: Das Versicherungsunternehmen bleibt zum Nachweis der objektiven vorvertraglichen Anzeigepflichtverletzung verpflichtet, ohne sich abschließend auf das Antragsformular berufen zu können, wenn der Versicherungsnehmer substantiiert vorträgt, den Vermittlungsvertreter mündlich weitergehend informiert zu haben. Diese rechtsfortbildende Rechtsprechung war die Grundlage für die Reform der Vertretungsmacht des Versicherungsvertreters für das Versicherungsunternehmen.

3. Aktuelle gesetzliche Regelungen (§§ 69–73 VVG):
a) Vertretungsmacht: § 69 I Nr. 1 VVG erweitert die Vollmacht des Versicherungsvertreters im Antragsstadium über die Entgegennahme des Antrags auf die vor Vertragsschluss abzugebenden Anzeigen und sonstigen Erklärungen des Versicherungsnehmers. § 69 I Nr. 2 VVG enthält wie bisher die entsprechende Vollmacht für rechtsgeschäftliche Erklärungen sowie für die vom Versicherungsnehmer zu erstattenden Anzeigen während des laufenden Versicherungsverhältnisses. Die Vollmacht zur Entgegennahme von Zahlungen in § 69 II VVG bezieht sich nach dem Wortlaut nur auf die Erstprämie oder die Einmalprämie (Einmalbeitrag). Diese Beschränkung im Vergleich zur früheren Regelung (§ 43 Nr. 4 VVG a.F.) ist nicht verständlich, eine Erweiterung auf die Folgeprämien erscheint geboten. Allerdings hat die Inkassovollmacht des Versicherungsvertreters durch das Zentralinkasso der Versicherungsunternehmen an Bedeutung verloren.
b) Wissenszurechnung: Die Kenntnis jedes Versicherungsvertreters wird dem Versicherungsunternehmen zugerechnet, die dieser „dienstlich“, also nicht „privat“ außerhalb seiner Tätigkeit als Versicherungsvertreter, und im Zusammenhang mit dem betreffenden Versicherungsvertrag erlangt hat (§ 70 VVG). Zu den „dienstlichen“ Tätigkeiten gehören z.B. die Antragsaufnahme, Nachverhandlungen, Besichtigungen, Entgegennahme der Schadenanzeige, Mitwirkung bei der Schadenregulierung. Die Grenzen dieser Wissenszurechnung sind dem allgemeinen Stellvertretungsrecht zu entnehmen: Kollusives Zusammenwirken zwischen Versicherungsnehmer und Versicherungsvertreter zum Nachteil des Versicherungsunternehmens, Evidenz des Vollmachtsmissbrauchs für den Versicherungsnehmer.
c) Beweislast: Das Versicherungsunternehmen trägt die Beweislast für die (objektive) Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht oder einer sonst verbal zu erfüllenden Obliegenheit durch den Versicherungsnehmer (§ 69 III S. 2 VVG). Ist dagegen die Abgabe oder der Inhalt des Antrags oder einer sonstigen Willenserklärung streitig (z.B. Deckungserweiterung, Dynamisierung, Beseitigung eines Ausschlusses), ist der Versicherungsnehmer nach allgemeinen Grundsätzen beweisbelastet (§ 69 III S. 1 VVG).
d) Unwirksamkeit von Beschränkungen: Die Vertretungsmacht jedes Versicherungsvertreters nach § 69 VVG sowie die weitergehende Vertretungsmacht des Abschlussvertreters nach § 71 VVG kann durch Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) nicht eingeschränkt werden, entgegenstehende Regelungen sind gegenüber dem Versicherungsnehmer und Dritten unwirksam (§ 72 VVG). Diese Unwirksamkeit gilt nunmehr allgemein, nicht nur für das Antragsstadium, sondern auch danach während des laufenden Versicherungsverhältnisses. Die Rechtsprechung des BGH hatte dagegen Vollmachtsbeschränkungen während der Vertragslaufzeit für wirksam gehalten. § 72 VVG wirkt auch gegenüber allgemeinen Schriftform- oder Textformklauseln in AVB statt mündlicher Erklärungen gegenüber dem Versicherungsvertreter. Nicht betroffen sind jedoch Schriftformklauseln für einzelne Willenserklärungen und Anzeigen des Versicherungsnehmers gegenüber dem Versicherungsunternehmen, z.B. betreffend die Änderung des Bezugsrechts oder die Anzeige einer Abtretung in der Lebensversicherung sowie die Kündigung eines Versicherungsvertrags oder die Entwendungsanzeige in der Kaskoversicherung (Schriftform).

4. Ausdehnung: Die Regelungen über die Vertretungsmacht des Versicherungsvertreters (§§ 69–72 VVG) werden auf Angestellte und nicht gewerbsmäßig tätige Vermittler, die mit der Vermittlung oder dem Abschluss von Versicherungsverträgen betraut sind, entsprechend angewendet (§ 73 VVG). Bei Mitwirkung von Versicherungsmaklern gelten diese gesetzlichen Regelungen nicht, falls nicht das Versicherungsunternehmen dem Versicherungsmakler entsprechende Vollmachten wie in §§ 69–71 VVG erteilt hat.

Autor(en): Prof. Dr. Roland Michael Beckmann, Professor Dr. Helmut Schirmer

 

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