Die Branche klagt über eine überbordende Regulatorik. Ob da etwas dran ist, zeigt eine Analyse.
Im vergangenen Jahr nahmen die Versicherungsunternehmen knapp 238 Milliarden Euro an Erstversicherungsbeiträgen ein. Dafür beschäftigten sie 212.200 Personen im Innendienst, im angestellten Außendienst oder als Auszubildende. Das macht gut 1,1 Millionen Euro Umsatz pro Kopf.
Inflation plus Mitarbeiteranbau schlägt Beitragswachstum
Tatsächlich war es aber schon einmal mehr: In den Jahren 2019 und 2020 verbuchten die Versicherer noch – inflationsbereinigt – gut 1,3 Millionen Euro Erstversicherungsbeiträge pro Kopf. Das liegt allerdings nicht etwa an einem Rückgang des Umsatzes, sondern an einem Zuwachs beim Personal von netto fast 8.500 Personen. Oder umgekehrt ausgedrückt, hat der Umsatz nicht mit Inflation plus Mitarbeiteranbau Schritt gehalten.
In der langfristigen Betrachtung zeigt sich ein deutlicher Rückgang der Produktivität. In der Dekade 1990 bis 2000 stieg der inflationsbereinigte Pro-Kopf-Umsatz um gut 43 Prozent oder jahresdurchschnittlich um 3,7 Prozent. In der nächsten Dekade war das Wachstum bereits geringer mit 29,3 Prozent insgesamt oder 2,6 Prozent pro Jahr. Von 2010 bis 2020 gab es vorläufig die letzte Dekade mit Wachstum, um 16,4 Prozent gesamt oder 1,5 Prozent pro Jahr.
In den ersten vier Jahren der Dekade 2020 bis 2030 dagegen steht ein Minus von 14,8 Prozent gesamt oder 3,9 Prozent im Jahresdurchschnitt.
Ist die Regulatorik an allem schuld?
Dafür kann es verschiedene Ursachen geben. Als eine solche wird immer wieder vonseiten der Versicherer die Regulatorik genannt. In den letzten rund 20 Jahren gab es eine Reihe großer gesetzgeberischer Neuerungen. Im Vertrieb waren das die EU-Vermittlerrichtlinie und die EU-Vertriebsrichtlinie, für die Versicherungsunternehmen aber auch Solvency II und die eine oder andere weitere Novelle bestehender Gesetze wie dem Versicherungsaufsichtsgesetz.
Einen Hinweis bietet der Umfang der einschlägigen Sammlung an Versicherungsgesetzen „VersR“ aus dem DTV-Verlag. Deren Umfang lag in den ersten Auflagen in den 1990er Jahren bei rund 300 Seiten. Aktuell sind es bereits über 700.
Und dabei enthalten diese Taschenbuchausgaben noch gar nicht einmal alle relevanten Rechtsquellen. Denn die Europäische Union regelt mittlerweile vieles für die Branche an verbindlichen Normen über sogenannte Delegierte Rechtsakte. In der „VersR“-Sammlung finden sich nur Tabellen mit Fundstellennachweisen, nicht jedoch die Rechtstexte selbst. Denn das wäre dann endgültig zu viel für ein Taschenbuchformat.
Ob der enorme Zuwachs an Gesetzen durch nationale Reformen wie diejenige des Versicherungsvertragsgesetzes oder durch europäische Initiativen ursächlich für die verlangsamte und zuletzt sogar negative Produktivitätsentwicklung der Versicherungsbranche ist, kann so nicht beantwortet werden.
Weitere Ursachen für Rückgänge der Produktivität
Es gibt weitere Einflussfaktoren wie beispielsweise eine möglicherweise zunehmende Verlagerung von Arbeiten beispielsweise auf Assekuradeure und andere Vermittler. Die sprunghaft gestiegene Inflation Anfang dieser Dekade schlägt sich möglicherweise erst mit Zeitverzug in den Versicherungsprämien nieder. In der Lebensversicherung schwanken die Einnahmen stark im Einmalbeitragsgeschäft. Bremsend auswirken dürften sich zuletzt auch die seit Jahren überfälligen, aber von inzwischen mehreren Bundesregierungen verzögerten Reformen der privaten und der betrieblichen Altersvorsorge.
Aber zumindest erscheint es plausibel, dass die Versicherer Personal vor allem wegen Regulatorik anbauen müssen. Neue Anforderungen im Berichtswesen an die Aufsichten, in der Nachhaltigkeit, im Datenschutz oder in der IT-Sicherheit schlagen sich im Personalbedarf nieder. Umso wichtiger wird es nun, durch Digitalisierung und geschickten Einsatz Künstlicher Intelligenz gegenzusteuern. Wenn mal nur nicht die nächste Regulatorik dem im Wege steht, Stichwort KI-Verordnung der EU. Die Bremsspuren bei der Produktivitätsentwicklung sind eine Warnung, dass Regulatorik nicht weiter als Selbstzweck ausarten sollte.
Autor(en): Matthias Beenken